Beschreibung
Das Preußen Marion Gräfin Dönhoffs ist das Land zweier kurzer Jahrhunderte. Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 und der aufkommenden wilhelminischen Großmannssucht ging es für immer verloren. Dem alten, eigentlichen Preußen widmet die Gräfin in diesem Buch sehr persönliche, zum Nachdenken anregende Überlegungen.Marion Gräfin Dönhoff war dem vergangenen Preußen, dem Land ihrer Familie und ihrer Jugend, zutiefst verbunden. Und dennoch war seine Geschichte für sie ein Januskopf, voller Gegensätze. Auf zwei kurze Jahrhunderte des Maßes und des Dienstes, auf einige Generationen großer Monarchen, Epochen der Toleranz, des Wissens um die Grenzen folgte die Großmannssucht eines Deutschen Reiches, das sich letztlich als zutiefst unpreußisch erwies. Das letzte Mal trat der Geist des alten Preußens am 20. Juli 1944 in Erscheinung, dem Tag des Attentats auf Adolf Hitler. Auf der Liste der Verschwörer gegen das nationalsozialistische Regime finden sich die großen Namen der preußischen Geschichte wieder.In ihrem historischen Essay kontrastiert Marion Gräfin Dönhoff die beiden Gesichter Preußens und erinnert sich sehr persönlich an die guten und schlechten Seiten dieses Staates, der für sie bereits 1871 untergegangen war. Ausstattung: mit Abbildungen
Autorenportrait
Marion Gräfin Dönhoff, geboren 1909 in Ostpreußen, unternahm nach dem Abitur ausgedehnte Reisen durch Europa, Nordamerika und Ostafrika. Dann studierte sie Volkswirtschaft; 1936 trat sie in die Verwaltung der Familiengüter ein, deren Leitung sie 1939 übernahm. 1945 musste sie vor der herannahenden Front nach Westdeutschland fliehen. Seit 1946 gehörte sie der Redaktion der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT an. 1955 wurde sie Leiterin des politischen Ressorts, 1968 Chefredakteurin und 1973 Herausgeberin. Sie ist u.a. mit dem Theodor- Heuss-Preis (1966) und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1971) ausgezeichnet worden. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u.a.: "Namen, die keiner mehr nennt", "Kindheit in Ostpreußen"(1988), "Zivilisiert den Kapitalismus" und "Um der Ehre willen. Erinnerungen an die Freunde vom 20. Juli" (1994). Marion Gräfin Dönhoff verstarb 2002 im Alter von 92 Jahren.
Leseprobe
Schloß Friedrichstein AM 17. JANUAR 1871, EINEN TAG BEVOR ER IM Spiegelsaal von Versailles zum Deutschen Kaiser gekrönt wurde, sagte Wilhelm I. zu Bismarck, der folgende Tag, der 18. Januar, werde der unglücklichste Tag seines Lebens sein, weil er es sei, der dann das preußische Königtum zu Grabe trage. Und in der Tat war jener pompöse, taktlose Mummenschanz in Versailles ein sehr augenfälliges Ende des alten Preußens, zu dessen Charakterisierung nicht zufällig das Wort "schlicht" so häufig verwendet worden ist. Bekanntlich besteht keine Einigkeit über das Datum, an dem der Tod Preußens eingetreten ist. War es 1918, nach der Abdankung des Kaisers, der ja zugleich König von Preußen war, oder 1952, als der Reichskanzler von Papen die letzte rechtmäßige preußische Regierung absetzte, oder war es erst am 25. Februar 1947, als der Kontrollrat durch das Gesetz Nr. 46 die Auflösung des "Preußischen Staates, seiner Zentralregierung und aller nachgeordneten Behörden" erklärte? Das Gesetz trägt übrigens noch die Unterschrift aller vier Militär-Gouverneure, also auch die des sowjetischen Marschalls Wassili Sokolowski. Zur Begründung der Auflösung hieß es, der preußische Staat sei von jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen. Das Gesetz hätte man sich sparen können, denn es gab damals nichts mehr aufzulösen. Wann also hat Preußen zu bestehen aufgehört? Ich meine, Wilhelm I. hatte recht, das Datum heißt: 18. Januar 1871. Denn das Preußen, welches dann im Rahmen des neugegründeten Deutschen Reiches weiterlebte, hatte wenig mehr zu tun mit dem alten Preußen: Es entwickelte schließlich Züge, die mit Recht allenthalben Befremden, wenn nicht Abscheu hervorgerufen haben. Im Archiv meines Vaterhauses in Ostpreußen befanden sich mehrere tausend Briefe, die mein Großvater, der Besitzer von Friedrichstein - er war Diplomat, kurze Zeit auch einmal Außenminister -, mit seiner Schwester gewechselt hat, die am Hof in Potsdam als Hofdame lebte. Es war eine über dreißig Jahre geführte, vorwiegend politische Korrespondenz. Damals 1871 sind beide unglücklich über die Raffgier und den Materialismus, der sofort nach Gründung des Deutschen Reiches ausbrach. Binnen sechs Monaten nach diesem Datum, so lautet die Klage, habe Berlin, das damals erst 900000 Einwohner hatte, schon mehr als zwanzig neue Straßenzüge in Bebauung gegeben. Die französische Kriegskontribution von fünf Milliarden Ffr habe die Wirtschaft enorm angeheizt: Über achthundert neue Aktiengesellschaften entstanden in kürzester Zeit. Besorgt schreibt die Schwester aus der Hauptstadt, die sozialen Zustände in Berlin, die Arbeiter betreffend sowie die Teuerung und die Wohnungsnot, hätten einen bedenklichen Punkt erreicht. Und er, der Bruder, ärgert sich über das, was er den "Fortschrittsschwindel" nennt, und über die Leute, die ihren Besitz nicht mehr treuhänderisch begreifen, sondern mit ihm umgehen wie mit einer Handelsware. Die Geschwister erregen sich sehr über den Strousbergschen Eisenbahn-Skandal. Dr. Strousberg war einer der großen, vielleicht der größte Unternehmer der Gründerzeit. Er hatte Eisenbahnen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Rußland und Rumänien gebaut und leitete mit immer kühneren Finanzmethoden einen immer größeren Industriekonzern, bis schließlich 1875 sein riesiges Unternehmen zusammenbrach und er selbst ins Gefängnis wanderte. Ja, das alte Preußen war nun wirklich tot: Alles wurde immer größer, immer mächtiger und immer prächtiger, aber das geistige Preußen siechte dahin: Immanuel Kant und auch die Reformer vom Anfang des Jahrhunderts hätten kein großes Interesse mehr gefunden. Als jener Großvater 1821 als junger Volontär im Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin seine Arbeit begann, residierte dieses Ministerium in einem kleinen Palais am Wilhelmplatz, wo es außer der Wohnung des Ministers nur noch folgende Zimmer gab: eines für den Staatssekretär Ancillon, sieben Zimmer für die sieben Geheimräte und dann noch einen großen Rau Leseprobe