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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783905689389
Sprache: Deutsch
Umfang: 120 S.
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

'Allein das, nur das wollte ich erzählen, den Zusammenhang zwischen Macht und Sex, zwischen Körper und Genealogie. All das, woran wir nicht dachten, als wir rebellierten.''Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, was ich nach der Schiesserei vage begriffen hatte: Dass jene perfekte Liebe und jene schöne Familie eine Illusion waren, ein gut geöltes Getriebe. Eine säuberlich polierte Oberfläche.''Heute frage ich mich, ob mir die Augen früher hätten aufgehen können. Damals aber ging mein Märchentraum in Erfüllung, das Zauberdorf war mit hell beleuchteten Strassen gepflastert. ' Olivier wandte sich von allem ab: von der Ehefrau, dem Sohn, der allzu geliebten Schwester, getrieben von einer dunklen, nie begangenen Schuld. Hinter sich hat er eine Familie und eine Sprache gelassen, hat im Exil, in Paris, gelebt. Doch eines Tages erhält Laura einen Brief von ihrem Bruder: Er will seinen Sohn Michele wiedersehen. Der ausgewählte Ort ist ein Ort in der Mitte, Genf, windig und fremd. Hier wird nach einer Antwort, nach Erlösung gesucht. Zwischen schwankenden Identitäten, verschiedenen Heimaten und uneingestandenen Ängsten versuchen die Figuren von Pierre Lepori verzweifelt, sich wiederzufinden und - einmal mehr - davon abzulassen, sich zu verletzen und zu flüchten. Den Ungewissheiten seiner Figuren folgend, erscheint dieser Roman, als absolutes Novum, gleichzeitig in drei verschiedenen Verlagen, die italienische Ausgabe bei Edizioni Casagrande, die französische bei Editions d'en bas und die deutsche, die auf der italienischen und französischen Fassung basiert, beim verlag die brotsuppe.

Leseprobe

Sonntag Zwei Bilder: da eine wunderschöne Frau, mit aschblondem Haar, kleine Fältchen im Gesicht, in den Augen Wut. Eine Stimme aus dem Off, kaum wahrnehmbar, verstümmelte Wörter, ich kann weder Sätze noch Sinn erkennen. Dort ein anderes Bild, ganz und gar überblendet, aber farbig: ein Dämon, ein besessenes Mädchen, ein schäumender Mund. Im Hintergrund das Profil der Frau, deren Wut sich in Tränen auflöst wie eine Kruste, die abbröckelt; das Gesicht zerbricht in Stücke. Dann langsames Schrumpfen, ihr Antlitz verwandelt sich in ein zerknittertes Photo. Obsessiv beginnt das Mädchen im Vordergrund in Geysir-Strahlen eine eitrige, grüngraue Masse zu erbrechen, die auf den Bildschirm spritzt. Das Bild wälzt sich unter meinen Lidern hin und her; ich schlafe nicht, aber ich bleibe still im Halbdunkel, im unaufdringlichen Geräusch, im Rollen des Wagens auf den parallelen Eisen der Gleise. Hin und wieder zucke ich zusammen, der Kopf kippt zur Seite. Oder ich habe den Eindruck, ich habe eine Stufe verfehlt, ich bin in ein Loch gefallen, oder ein plötzlicher Sprung hat das ruhige Dahindösen unterbrochen. Doch ich halte es aus, ich öffne die Augen nicht. Das Bild der zwei überblendeten Filme kreist weiter und weiter, es ist die Erinnerung an eine Ausstellung, die ich letzten Sonntag besucht habe; sie besitzt ein Eigenleben, eines mit unbekannten, unverhofften Verpuppungen. Mein Gedächtnis ist ein Tuch, dessen Ränder im Nachtwind flattern. Auf diesem Tuch spiegeln sich Erinnerungen, Bilder, Überlappungen, so, als würde alles immer aufs Neue geschehen, in einer tragischen Gleichzeitigkeit einer fehlgeborenen Zeit. Bei Wittgenstein habe ich einmal gelesen, dass das Ende der Zeiten nichts anderes als das Ende der Zeit sei: Bleiben wird einzig der weite, unheimliche Raum, und das Ticken der Uhren wird plötzlich aufhören. Wäre das so, hätten die Theologen recht, und das Paradies gäbe es nicht. Was es gibt, ist die Hölle: eisig und reglos. Oder das weisse Tuch, auf dem das Bewusstsein weiter eitert. Ein Horrorfilm. Mein Bruder Fredi. Freddy Krüger.Das Quietschen des Zuges sollte mich eigentlich nerven, doch es hätte schlimmer sein können. Als ich in der Gare de Lyon einstieg, fiel mir sofort die grosse Zahl der Kinder auf: Ich habe nichts gegen Kinder, ihre geballten kreischenden Stimmen aber, ihr Herumtoben aus reiner Langeweile verhindern oft, dass man denken oder einfach nur in Ruhe dasitzen kann. Diese hier aber sind, seltsamerweise, ruhig, fast traurig. Ein Mädchen in einem weiss-roten Blumenkleid starrt mich schmollend an, umschlingt ein schmächtiges, abgewetztes Känguru, während ein anderes sich selber Geschichten erzählt. Unweit von ihr sitzt ein Vater, der sichtlich wenig Lust hat, sich mit der Tochter zu unterhalten, die vielleicht deswegen ständig nach Cola und Süssigkeiten fragt oder nach den Namen der vorbeiziehenden Städte, oder nach der Fahrkarte, die sie in der Hand halten will, oder nach anderem, immer beharrlich, lieb. Der Vater antwortet ohne Nervosität, ohne Unbehagen, jedoch widerwillig, mit Sätzen, so grob wie seine Hände. Er scheint sie nicht lieb zu haben, aber das ist vielleicht auch nur mein Urteil. Dann schaut mich das Mädchen an, sie mustert mich vergnügt, ich muss ihre Aufmerksamkeit geweckt haben. Sie hat wunderschönes Haar, kupferfarbene Locken auf schneeweisser Haut, die mit Sommersprossen übersät ist. Genau diese Farbe und dieses Haar hatte ich in einem Bild gesehen, da bin ich mir sicher, doch es war eine Tote gewesen, sie lag auf dem Wasser, unter Trauerweiden. Ophelia? Ich lächle dem Mädchen zu, weil sie aber nicht aufhört mich anzustarren, schliesse ich verlegen die Augen. Das ernste Gesicht lächelt weiter hinter den Lidern; der Mund öffnet sich, isoliert stehen kleine Zähne da; die Augen sind schwarz, spitz wie Bleistiftminen, während die Haut sich zu verkohlter Plastikhülse schuppt, und der hässliche Schrei eines Mutanten ihr aus der Zunge rinnt. Übereinander gelegte, verdoppelte und überblendete Bilder, i