Beschreibung
Die gefeierte Schriftstellerin Nathalie Oppenheim reist zur Lesung in die Provinz - mit einem Roman, dessen Hauptfigur gerade einen Roman geschrieben hat. Der Kulturabend in der Mehrzweckhalle wird zum Risikospiel für die Frau, die sich sonst dem Literatur betrieb verweigert. Mit dabei: ein Bibliothekar, der Gedichte schreibt, und ein Bürgermeister, dem Kunst auch fürs Stadtmarketing willkommen ist. Das öffentliche Interview mit einer Starjournalistin wird zum Duell, als es um Fragen nach Erlebtem, privater Existenz und der öffentlichen Wirkung von Kunst geht. Ein spannungsreiches, nachdenkliches und provokantes Gespräch: über das Unableitbare in der Literatur und die Offenheit dichterischer Erfindung.
Autorenportrait
Yasmina Reza lebt in Paris. Sie ist die meistgespielte Theaterautorin der Gegenwart, besonders bekannt durch ihre Stücke "KUNST" und "Der Gott des Gemetzels". Ihr Bühnenwerk ist in Einzel- und Gesamtausgaben bei Libelle lieferbar.
Leseprobe
Der Tag war trocken, windstill, kalt. Meine Brüder zappelten durch das Haus, mich hatte die Hoffnung ungeduldig gemacht. Ich drängte zu früh, immer eiliger aus dem Haus, um den besten Platz auf der Treppe für uns zu erobern, ganz oben, von wo aus man alles sieht. Die Mutter und Lucie begleiteten uns. Der lange Hinweg zu Fuß, in Zwielicht Dämmerung Dunkel ging an Schwarzfensterhäusern, zerbombten Gärten vorbei. Immer mehr Leute, die Kerzen und Lichtkästen trugen, kamen aus dunklen Straßen und Winkeln zusammen. Kann sein, dass das kleine Licht beschämt das hellere wahrnahm, der funkelnde Feuerkasten gelassen vorbeizog an einem, der ohne Kerze im Lichtschein der anderen ging. Stärker waren Erwartung und Feuereifer im gemeinsamen Drängen auf das Fest. Ich war zum ersten Mal Teil einer Menge Menschen, die nicht Zähnezeigen, Faust und Getrampel, sondern Durcheinander ohne Feindlichkeit war. Auf dem weiten Platz unterm Dom war noch Raum genug, um gefahrlos drängelnd auf die Treppe zu kommen und hochzuklettern in die Nähe des Chors, der weit über mir im Dunkeln befestigt schien. An den Mauern flammte Widerschein ungezählter Kerzen. Wir verteidigten unseren Familienplatz auf der hohen Stufe und hörten, dass Sitzen und Platzhaben hier nicht vorgesehn sei. Der Stein war kalt, wir mussten stehn. Wer sich setzte, nahm zwei Stufen für sich in Anspruch, der Zweistufenplatz nahm einen Stehplatz weg, doch suchte kein Mensch einen Vorteil auf Kosten der anderen. Der Platz unterm Domberg und seine Treppe waren unüberschaubar dicht mit Kindern besetzt. Immer mehr Lichter sprangen an, richteten sich in die Höhe und flammten hell, jede Kerze war einzig. Es war auf den Stufen immer kälter geworden. Die Kälte prickelte an den Beinen, doch waren Körper und Kleider nah zusammengerückt, dass die Kälte nicht durchkam. Sie verschwand in Mänteln, Röcken, Hosen und blieb auf Schenkeln und Knien ein flüchtiger Frost. Wir hatten an, was zum Anziehn für uns da war, nicht genug für den Stehplatz auf Stein im beginnenden Winter. Die Schuhe waren verbraucht, die Sohlen zertreten, die Wollsocken dünn. Einen, der Schuhe verschenkte, kannten wir nicht. Das Summen und Schallen der Stimmen und ihr Lachen fiel in Augenblicken zusammen, es wurde still, alle Lichter brannten. Eine einzelne Stimme begann zu sprechen, ich sah nicht, woher sie kam und wem sie gehörte, verstand das Gesagte nicht, es ging verloren, aber der Verlust enttäuschte mich nicht. Nie wieder vermisste ich Rede und Reden, die mir im öffentlichen Raum entgingen. Was fehlte, war das Fest, es musste kommen. Stille, die erfasste und festhielt, was da war viele Kinder und Leute, unfassbar viel Licht. In diese Stille sie hielt eine Weile an fiel der erste metallene Klang der kleinsten Glocke. Das Domgeläut begann. Die zweite Glocke setzte ein, ihr Schall war langsamer, schwerer als das helle Schallspiel der ersten. Die dritte Glocke brachte das erste Dröhnen, die vierte Donner, die nächste bebte hart in den Steinen der Treppe. Nach den Einschlägen immer schwererer Glocken schien der Dom mit dem Fels und der Treppe davongeflogen, im Getöse standen die Lichter der Kerzen still. Ich hatte das Domgeläut von fern gehört, im Steigerwald oben verlor sich sein Widerhallen, hier war ich im Geläut wie in einem Gewitter, das Glockengewitter schlug zu und machte ein Ende mit mir. Von meinen zehn Jahren, von der Zeit aller anderen, schien nicht der stillste Notschrei übriggeblieben es wurde im Nachkrieg mehr als im Krieg geweint. Es gab Kinder, die fingen zu weinen an. Andere blickten in das Licht ihrer Kerzen, hielten erwachsene Hände fest, standen in ihren kalten Schuhen, und ich glaubte zu wissen: sie froren nicht.