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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783935597562
Sprache: Deutsch
Umfang: 168 S.
Format (T/L/B): 1.8 x 21.8 x 14.7 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Der junge kasachische Anthropologe Noel macht einen sensa­tionellen Fund. In einem Steppengrab findet er den Schädel des berühmten Dichters Mahambet, der 1830 gegen die russischen Kolonisatoren und den kollaborierenden Khan aufstand und später ermordet wurde. Mithilfe der forensischen Gesichts­rekonstruktion, die sein Mentor Michail Gerassimov entwickelt hat, will er aus starren Ikonen das Bild des wahrhaften Menschen auferstehen lassen. Doch die von Beamten verwaltete Wissenschaftswelt will davon nichts wissen. Noel wird an den gesellschaftlichen Rand gedrängt, versucht seinen Traum zu vergessen und sich des Schädels zu entledigen, der zu ihm spricht und erzählt, vom verlorenen Kampf um Freiheit und von Verrat. Als nach der Unabhängigkeit Kasachstans eine patriotische Welle das Land überströmt, lobt die Regierung einen Preis von einer Million Dollar für den verschwundenen Schädel des Nationaldichters aus. Es beginnt eine groteske Jagd nach dem Kopf des teuren Toten, in deren Verlauf alle Masken des Anstands fallen.

Autorenportrait

Rahymzhan Otarbaev, 1956 im westkasachischen Atyrau geboren, begann als Journalist und Radioredakteur, war Regisseur vielbeachteter Dramen und Theaterleiter. Er veröffentlichte auch Erzählungen und Romane. Seine Arbeiten setzten sich kritisch mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander. Er starb unerwartet im März 2018.

Leseprobe

Es war schon verdammt spät. Der Mond verließ, nachdem er mit seinen silbernen Strahlen reichlich die Gegend beschenkt hatte, seine Umlaufbahn am Himmel. Selbst die Sterne blitzten nur noch verschämt auf, wurden blass und begannen mählich zu verlöschen. Noel, der seit Nachmittag am seinem Schreibtisch hockte und arbeitete, tat der Hintern weh, seine Lider waren verklebt, und er konnte kaum noch die Augen aufhalten. Er warf durch das Fenster einen Blick in den Hof und wollte schon auf den Balkon gehen. Aber er konnte sich nicht aufraffen. Wieder war ein neuer Morgen seines Lebens angebrochen. »Würde er uns mit einem Lächeln ins Gesicht sehen? Was sagst du, Mahambet Aga?« fragte er und schaute auf den vor ihm liegenden blanken Schädel. »Ich habe dich aus deinem Grab geholt, konnte dir aber kein Leben einhauchen. Ich habe dein Gesicht rekonstruiert, auf das alle, die sich für Kasachen halten, gewartet haben. Sei es mit mir zufrieden. Schimpfe nicht mit mir. Ich habe keine Kraft mehr. Ich bin völlig am Ende. Ich gehe zurück nach Moskau« Ihm war, als kehrte in beide Augenhöhlen, groß wie die Handflächen eines Kindes, wieder Leben zurück und die Kieferknochen des Schädels setzten sich klappernd in Bewegung. »Heh, Noel, hast du mich ausgegraben, um mich dann in Almaty einfach wegzuschmeißen? Das ist doch eine ziemliche Erniedrigung! Ganz deutlich hörte er diese Worte, die aus den klappernden Kieferknochen kamen. Aber es war ihm unmöglich auszumachen, ob das real oder nur ein Traum war. Noel war ein Schüler des berühmten Professor Gerassimow und der einzige Anthropologe, der in Kasachstan tätig war, dem man dennoch jegliche Anerkennung versagte. Ein junger Mann mit anziehendem Äußeren, gerader Nase und hellem Teint. Damals noch, als er nach Abschluss seines Studiums in Moskau, in seine Heimat zurückkehrte Große Pläne hatte er und sich geschworen, die Physiognomien aller kasachischen Persönlichkeiten, die mit ihren unverwirklichten Träumen gestorben oder getötet worden waren, wieder ins Leben zurückzubringen. Sommers wie winters machte er sich an Ausgrabungen an Kurganen und uralten Grabstätten. Vom ständigen Hin- und Herlaufen waren seine Schuhabsätze schon ganz schief und abgetragen. Die Sonnenstrahlen hatten sein Basecap durchlöchert und Bleichspuren auf seiner Stirn hinterlassen. Der vernachlässigte Bart war staubbedeckt. Unzählige Spaten und Brechstangen waren abgestumpft von den anstrengenden und langwierigen Ausgrabungsarbeiten, silbrig abgewetzt glänzten ihre Spitzen. Noel hatte eine Vision, die einen Ursprung hatte, bedauerlicherweise aber kein Ende Fänden sich nur immer die Schädel der Verstorbenen an den Beerdigungsorten, damit man deren Gesicht wieder rekonstruieren könnte Könnte er doch nur das Bild des Khans abbilden, mit dem gabelspitzigen Hut auf dem Kopf, dem bis auf die Brust reichenden silbrigen Bart, seinem gedanken- und sorgenverdüsterten Gesicht, die Zukunft seines Volkes voraussehend, den Blick weit in die Ferne richtend Noel suchte etliche staatliche Stellen und renommierte Organisationen auf, deren schwere Eichentüren sich nur widerwillig und mühsam öffneten. Völlig niedergeschlagen kehrte er zurück und gelangte letztendlich zu einem Kurgan in Talgar, der einem niederkauernden Kamel glich. Er schien gänzlich unberührt von irgendwelchen Untersuchungen, und also auch noch nicht ausgeplündert worden zu sein. Das bedeutete, dass er vielleicht viele Geheimnisse in sich bergen würde. Die obere Erdschicht war ganz weich, so bereitete ihm der erste Spatenstich keine Schwierigkeiten. Erst ab der zweiten und dritten Spatentiefe stieß er auf die graubraun gekörnten Steinchen des Hügels. Als es Nachmittag wurde, erschienen seine beiden Helfer, Wowa und Malik. Sie waren seine Freunde, die mit ihm in der selben Straße in Almaty aufgewachsen waren. Beide waren wegen Stellenkürzungen entlassen worden und nun arbeitslos. »Wenn du hier Gold findest, wirst du es mit uns teilen müssen, das will ich dir im Voraus gesagt haben«, sagte Wowa, dem beständig der Schweiß lief. »Sonst werden wir es dir einfach wegnehmen. Unsere Frauen und Kinder sitzen hungrig zu Hause,« ergänzte Malik, der nur noch Haut und Knochen war. Das war von den Freunden natürlich nur als Scherz gemeint.

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