Wilde Zeiten - Cover

Wilde Zeiten

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783940435101
Sprache: Deutsch
Umfang: 116 S.
Format (T/L/B): 1.3 x 21.4 x 13.5 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Haiti zu Beginn der Sechzigerjahre. Während Papa Doc sich anschickt, zum Präsidenten auf Lebenszeit zu werden, lässt die schöne Mulattin Nirvah sich auf eine Affäre mit einem Staatssekretär ein, um das Leben ihres inhaftierten Mannes zu retten. Nach und nach ergreift der brutale Emporkömmling Besitz von ihr und ihrer Familie. Gewissheiten und die Begriffe von Gut und Böse zerfallen. Eine intimistische Schilderung der Duvalier-Diktatur und zugleich ein spannender Politthriller.

Autorenportrait

Kettly Mars, geboren 1958 in Port-au-Prince, Haiti, erhielt eine klassische Schulbildung und arbeitete als Verwaltungsangestellte. Ab den 90er Jahren wurde sie in Haiti als Lyrikerin bekannt. Es folgten Prosawerke, die internationale Anerkennung fanden. Auf Deutsch machte sie erstmals durch den Roman "Fado" auf sich aufmerksam. 2011 wurde sie mit dem Prins-Claus-Preis der Niederlande ausgezeichnet.

Leseprobe

Der Staatssekretär geleitet mich persönlich in sein Büro. Bereits an der Tür erfasst mich die Kälte des Raums. Vermutlich sind es fünf Grad weniger als im Warteraum. Wie kann man in dieser Eiseskälte leben? Schweres, vornehmes Mobiliar. Überall massives, dunkles Holz. Es herrscht sorgfältige Ordnung. Eine Neonlampe wirft einen grellen Lichtkreis auf eine Ecke des Schreibtisches. Eisig und trocken ist die Hand des Staatssekretärs, seelenlos sein Händedruck. Er trägt einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine rote Krawatte. Ein üblicher Aufzug. Bei seiner überdurchschnittlichen Größe verdeckt die tiefschwarze Haut sein Alter. Mitte vierzig, schätze ich. [] Ich merke plötzlich, dass ich dringend Wasser lassen muss, vermutlich der Kälte wegen. Als die Sekretärin ging, hat sie die Toilettentür des Wartezimmers verriegelt, ich halte schon ziemlich lange aus. 'Setzen Sie sich Madame Leroy.' 'Danke Exzellenz.' [] 'Ich ich bin in dringender Angelegenheit vom Präsidenten der Republik gerufen worden.' Endlich spricht er mit mir, wenn auch in einem Ton, als rede er über das Wetter. Ich nehme an, dass die Auskunft als Entschuldigung für meine vier Stunden und zehn Minuten im Vorzimmer dienen soll. Aber ich lasse mich nicht täuschen. Diese beabsichtigte, berechnete Wartezeit legt das Drehbuch klar fest. Er hat mich in seiner Gewalt, kann mich mit seiner Macht retten oder vernichten. Ich bin in der schlimmsten Lage, in die ein Bürger des Landes geraten kann. Ausgesetzt dem legitimen Zorn der beleidigten absoluten Autorität, im Lager derer, die sich dem 'Marsch der Revolution' entgegenstellen, der Verräter an der Sache. Genau hinter dem Sessel des Staatssekretärs gibt es eine Tür nach draußen. Sie nutzt er sicher, um ungesehen von der Fauna, die tagsüber vor seinem Büro lungert, den Präsidentenpalast zu verlassen oder zu betreten. Die Tür links von mir führt bestimmt zu einer Toilette. Der Staatssekretär holt ein Heft und einen Stift aus einer Schublade seines Büromöbels. Er beobachtet mich aufmerksam, aber so, dass ich es nicht merken soll. Ich spiele dasselbe Spiel. 'Hm ich habe mich auf Vermittlung meines Freundes Doktor Xavier bereitgefunden, Sie hier zu empfangen, Madame.' Der Staatssekretär macht eine Pause. 'Ein ausgezeichneter Internist, dieser Doktor Xavier', verrät er mir in vertraulichem Ton. 'Ein Mann, dem ich viel, sehr viel verdanke er hat mir das Leben gerettet. Normalerweise nehme ich diese Art von Beschwerden nicht entgegen. Aber ausnahmsweise Name und Vorname Ihres Gatten?' Sein Ton ändert sich. Das leicht Süßliche in seiner Stimme erschreckt mich. Mein Herz droht mir die Brust zu sprengen. 'Leroy Daniel', sage ich in einem Atemzug. 'Alter?' 'Neununddreißig Jahre.' 'Beruf?' 'Professor für Philosophie, Recht Geschichte.' 'Und außerdem?', fragt mich der Staatssekretär und hebt eine Braue. Seine Stimme hat einen kalten Ton angenommen. Zum ersten Mal, seit ich im Raum bin, sieht er mich richtig an. Ich bekomme eine Ahnung von der Eigenart des Staatssekretärs, einen zu verwirren, indem er unvermittelt Thema und Tonfall wechselt. Als wenn ein Läufer im Zickzack läuft. Wahrscheinlich eine Verhörtechnik, die ihm zur zweiten Natur geworden ist. Im Grunde weiß er alles über Daniel. Sein Alter, seine Verwandtschaft, seine wirtschaftliche Lage, seine Lehrstühle an der Universität, seine Zeitungsartikel, in denen er die Regierung kritisiert, seine Hautfarbe, das Datum unseres Hochzeitstags, die Vornamen unserer Kinder, alles. Seine Aufgabe besteht darin, alles über alle Daniels herauszufinden, die Sandkörner ins Machtgetriebe streuen, und sie zum Schweigen zu bringen. 'Journalist ', füge ich leiser hinzu. 'Chefredakteur der oppositionellen Zeitung Le Témoin und Nummer zwei der UCH', ergänzt der Staatssekretär wie nebenbei. [] 'Wie lange ist Ihr Gatte schon verschwunden?' 'Zwei Monate und einen Tag.' Ich hätte jedoch gern hinzugefügt, was dem Staatssekretär bekannt ist, nämlich dass Daniel nicht verschwunden ist, sondern von drei Männern fortgebracht wurde, als er bei Einbruch der Dunkelheit nach Hause kam, dass sie in unser Auto eingedrungen sind, das noch immer nicht wieder aufgetaucht ist. Es soll nämlich Zeugen für die Szene geben, aber man wird keine Untersuchung anstellen, und niemand wird aussagen.