Beschreibung
Stammkneipe >Florian<, Berlin-Charlottenburg. Hier treffen sich jeden Donnerstagabend beim Wein die zwei alternden Freunde Hartmut und Klaus: Rentner, Witwer, vereinsamte Männer, mit unterschiedlichen Weltanschauungen und Diskussionen, die auch schon mal in Streit ausarten. Klaus drängt zum ersten Mal darauf, eine eigene Geschichte vorzutragen, angelehnt an seinen Lieblingstragiker Sophokles. Jede Woche wird nun - häppchenweise und gespickt mit Zitaten - die Geschichte der Frau Idipa - oder Ödipa, wie Klaus sie am liebsten nennen würde - erzählt: Als Idipa Lars kennenlernt, scheint sie die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben, nach der sie sich so lange gesehnt hat. Dass die Idylle nur trügerisch ist, stellt sich erst heraus, als sie sich Jahre später auf die Suche nach ihrer eigenen Vergangenheit macht. Ein gewaltsamer Tod, das Fehlverhalten anderen gegenüber und die Leugnung der eigenen Taten, führen die Frau von einem ins anderen Unheil. Schuld und Schicksal holen sie ein und die Wahrheit ist grauenvoll. Helga Brehr behandelt in ihrer Novelle das Schuldgefühl zweier Menschen, die auf Vergebung hoffen. Ihre Protagonisten sind von der Unfähigkeit zur Ehrlichkeit geprägt, und suchen nach Auswegen wenigstens kleine Geständnisse anzudeuten. Als Katalysator dient der antike Mythos um Ödipus, der einen passenden Rahmen zu bilden scheint, um die eigene tragische Geschichte zu verpacken. Doch kann das Gewissen von der selbstverschuldeten Last tatsächlich befreit werden?
Autorenportrait
HELGA BREHR 1947 in Hamm/Westfalen geboren. Sie studierte 1966 bis 1970 Bibliothekswesen in Stuttgart, München und Freiburg. Als Dipl.-Bibliothekarin arbeitete sie in der Universitätsbibliothek Freiburg und in West-Berlin im Deutschen Bibliotheksinstitut sowie im Deutschen Musikarchiv. Von 1982 bis 1987 studierte sie Spanisch und Englisch für Übersetzer an der Universität Saarbrücken. Es folgten ca. 2 Jahre Aufenthalt in Dänemark, wo sie intensiv die Landessprache lernte und in Odense an zwei Sprachinstituten Deutschunterricht gab. Seit 1990 lebt und arbeitet sie in Schleswig-Holstein. Sie unterrichtet im eigenen Sprachinstitut Dänisch für Erwachsene und Deutsch für Mitarbeiter dänischer und schwedischer Firmen. Für ihren Deutschunterricht verfasste sie eigene Texte und Lehrbücher. Ihr besonderes Interesse gilt Griechenland, wo sie seit 30 Jahren immer wieder kürzere und längere Aufenthalte hatte, unter anderem mehr als 2 Jahre in Athen. Helga Brehr beschäftigt sich seit ihrer Studienzeit mit dem Schreiben, nahm an Schreibkursen und Workshops teil, schrieb mehrere Kurzgeschichten, Erzählungen und Romane und beteiligte sich 2004 mit Erfolg an einem Schreibwettbewerb der Arbeitsgruppe >Frauen ohne Grenzen<. Die vorliegende Novelle >Ödipa< ist die überarbeitete Neuauflage der Erzählung >Klaus und Idipa<, Vlg. BoD / 2009, die sie unter dem Pseudonym Jlia Amphis veröffentlichte.
Leseprobe
>CAFÉ FLORIAN<, BERLINCHARLOTTENBURG 'Was man sucht, es lässt sich finden, was man unbeachtet lässt, entflieht', zitierte Klaus aus einer griechischen Tragödie. Ich trank einen Schluck Wein und sah zum Fenster hinaus in den trüben Frühlingsabend. Ein Mann und eine Frau standen auf der Straße vor unserer Stammkneipe >Florian< in Berlin-Charlottenburg. Ihren Gesten nach schien das Paar sich heftig zu streiten. Ein kleines Mädchen sprang um sie herum und zupfte mal die Frau mal den Mann am Ärmel, wurde aber von der Frau barsch zurückgewiesen. Der Mann legte schließlich einen Arm um die Schulter der Kleinen. Ich wandte mich wieder Klaus zu, der mir am Wirtshaustisch gegenüber saß in grünen Cordhosen, grünem Polohemd und braunem Cordjackett. Sein Blick kam mir unruhig vor, ich hatte den Eindruck, dass er mir etwas Bestimmtes sagen wollte aber nicht wusste, auf welche Art er beginnen könnte. Warum machte er es immer so kompliziert? Warum legte er nicht einfach los? Ich hatte ein ungutes Gefühl, während ich ihn betrachtete. Sein schmales Gesicht, in dem die großen braunen Augen fast überdimensioniert erschienen, die grauen Haare, die in weichen Wellen bis in die hohe Stirn ragten, die geschwungenen Lippen und die schmalen, feingliedrigen Hände - ja, ich musste zugeben, dass er gebildet und sensibel wirkte, fast wie ein Künstler, aber ich bemerkte auch, dass er blass und mitgenommen aussah. Verglichen mit ihm glaubte ich, obwohl gleichaltrig, noch immer einen jüngeren und gesunderen Eindruck zu machen, wenn auch einen stämmigen und etwas nichtssagenden, mit meinem breiten Gesicht, den klaren, blauen Augen, den kurzen Haaren und meinen kräftigen Händen, denen man ansah, dass sie zupacken konnten. 'Ich sage dir, Hartmut' begann Klaus wie-der, 'in den Tragödien von Sophokles und Euripides finden sich schon alle Themen und Gefühle dieser Welt. Die Menschheit hat seither nichts Wesentliches dazugelernt.' 'Die klassische griechische Literatur ist und bleibt deine Leidenschaft', entgegnete ich, 'nun, da du schon seit deiner Frühpensionierung nicht mehr am Gymnasium Latein und Altgriechisch zu unterrichten hast, könntest du endlich abschalten, stattdessen schreibst du eigene Geschichten, die einen Bezug zur Litera-tur des Altertums haben. Du kommst nicht davon los.' Ich sah, dass Klaus eine ungeduldige Handbewegung machte, mit der er fast sein Weinglas umwarf, doch ich ließ mich nicht unterbrechen. 'Im übrigen denke ich über deine Behauptung völlig anders', fuhr ich fort, 'die Gefühle von Menschen, die vor zweitausend Jahren lebten, interessieren mich nicht. Du weißt, dass ich als Tiefbauingenieur handfeste Dinge hervorgebracht habe, wie Brücken, die über Flüsse und Täler führen oder Inseln mit dem Festland verbinden. Und ich verfolge, auch wenn ich, genau wie du, nicht mehr beruflich aktiv bin, mit Interesse den technischen Fortschritt unserer Zeit, bin fasziniert davon, dass ich per Mausklick das unendliche Wissen der ganzen Welt in mein Wohnzimmer holen kann.' 'Mein alter Brockhaus', erklärte Klaus und hustete, während er mit einem Arm theatralisch ausholte, 'und meine umfangreiche Bibliothek reichen mir völlig aus. Und Inseln nähere ich mich lieber beschaulich auf dem Segelboot als mit dem Auto über eine Brücke zu donnern.' Wir saßen, wie jeden Donnerstagabend seit fünf Jahren, in unserer ruhigen kleinen Stamm-kneipe beim Wein. Zwei etwas vereinsamte Männer, beide Witwer. Jeder erzählte vom Ver-lauf der Woche. Und dann landeten wir wie immer bei einer der großen Diskussionen über unsere unterschiedlichen Weltanschauungen, die manchmal auch in Streit ausarteten, dann wieder abflachten und Erzählungen aus der Vergangenheit Platz machten. So gegensätzlich auch unsere Ansichten - wir fanden am Ende immer einen versöhnlichen Ton, gingen meistens in Frieden auseinander, denn wir wollten uns ja wieder begegnen, am nächsten Donnerstag zur selben Zeit. Es gab nicht mehr so viel Beständiges in unseren Leben außer dem Donnerstagabend.
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