Beschreibung
Pastoren, passionierte Jäger, Hofräte, Großschriftsteller und Journalisten: Mit Weltkriegsbeginn folgt den Frontsoldaten ein Riesentross schreibender Zivilisten nach. Weit über zweihundert Reiseberichte entstehen: Ausbünde der Ignoranz gegenüber dem Abschlachten in nächster Nähe. Wenige sind wert, gelesen zu werden.Eine der Ausnahmen: die Reportagen Arthur Holitschers. Ihn haben in England, Ostpreußen, in Südtirol und am Isonzo 1914/15 seine »Fotografieraugen« (Kurt Tucholsky) nicht im Stich gelassen: getreulich zu überliefern, was er gesehen hatte, hellsichtig zu imaginieren, was noch folgen würde, skeptisch zu berichten, was an Unmenschlichkeiten im Umlauf war.
Autorenportrait
Am 22. August 1869 in Budapest als Spross einer großbürgerlichen deutsch-jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, besucht Arthur Holitscher das dortige Priaristen-Gymnasium. Nach einer Banklehre ist er während »sechs verlorener Jahre«, zwischen 1887 und 1893, als Bankkaufmann in Budapest, Rijeka und Wien tätig. Mit Erscheinen seines Novellenbandes »Leidende Menschen« trifft Holitscher den Entschluss, Schriftsteller zu werden. Er geht nach Paris und macht dort, seine spätere politische Einstellung, aber auch seine Schriftstellerlaufbahn prägende Bekanntschaften: Neben Kontakten zu den Pariser Anarchistenkreisen um Sébastien Faure, lernt er den Schriftsteller Knut Hamsun und den Verleger Albert Langen kennen. 1897 gelingt es Arthur Holitscher, Redakteur der Zeitschrift »Simplicissimus« zu werden. Er siedelt nach München über. Thomas Mann, Frank Wedekind, Max Dauthendey und Eduard von Keyserling sind nur einige der Literaturgrößen, mit denen er in Schwabing verkehrt. Als Autor bis zu diesem Zeitpunkt wenig beachtet, verhilft ihm sein Reisebericht »Amerika heute und morgen« zum literarischen Durchbruch. In ihm fasst Holitscher die Erlebnisse seiner achtmonatigen Amerikafahrt 1911/12 zusammen. »Amerika heute und morgen«, nach seiner eigener Aussage das »erste in deutscher Sprache geschriebene Buch, das eine Reise vom sozialistischen Standpunkt geschildert hat«, erreicht bis 1923 stolze 14 Auflagen. Es wird zum wichtigen Wegbereiter sozialengagierter Reiseberichte und Reportagebücher der 20er Jahre. Reisen nach England sowie während des Ersten Weltkriegs nach Ostpreußen, Tirol und Friaul schließen sich dem Nordamerika-Aufenthalt an. Als Ergebnis seiner Erlebnisse in diesen Ländern erscheint nicht nur ein Buch: Vielmehr tritt Holitscher jetzt dem pazifistischen »Bund Neues Vaterland« bei, dem er nach Verbot (1916) und Umbenennung zur »Deutsche Liga für Menschenrechte« (1922) bis 1931 als Vorstandsmitglied angehört.Vor dem Ersten Weltkrieg waren, mit Ausnahme des Amerika-Buchs, vornehmlich autobiographisch gefärbte Künstlerromane entstanden. Sie behandelten meist tragische Außenseiter und ihr Scheitern in der Bohème des Fin de siècle. Bis auf sein 1908 erschienenes Drama »Der Golem«, das dem Regisseur Paul Wegener zwölf Jahre später als Vorlage zum gleichnamigen Film diente, blieben diese Publikationen jedoch praktisch ohne Wirkung. Nach dem Ersten Weltkrieg ändert sich das: Jetzt werden Reportagen aus aller Herren Länder zu Holitschers vielgerühmten, literarischen Markenzeichen. 1922 berichtet er engagiert über Chancen und Nöte der zionistischen Bewegung in Palästina. 1925 interviewt er Mahatma Gandhi in Indien. 1929 kehrt er schließlich in die USA zurück. Achtzehn Jahre war Holitscher absent von Amerika: Jetzt spürt er den Veränderungen im »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« nach. Vor allem aber reist Arthur Holitscher immer wieder ins revolutionäre Russland, das ihn »als lebendig[e] Utopie«, »als erste[r] [...] entscheidende[r] Schritt zur Verwirklichung des anarchistischen Ideals« in Bann geschlagen hat. Mit die frühesten deutschsprachigen Berichte über die Umwälzungen der Oktoberrevolution sowie die kulturellen Bemühungen der Bolschewiki stammen aus seiner Feder. Zeitlebens parteilos und mit der anarchistischen Bewegung sympathisierend, hält Holitscher wohltuende Distanz zu den neuen Machthabern im Kreml. Die unverstellte und vorurteilslose Schilderung von Land, Leuten und Geschehnissen sichert seinen Reportagen, wie auch seinen beiden 1924 und 1928 veröffentlichten Autobiographien »Lebensgeschichte eines Rebellen« und »Mein Leben in dieser Zeit«, ihren bleiben literarischen Wert.1933 werden Arthur Holitschers Bücher von den Nationalsozialisten verboten und verbrannt. Vor ihrer Herrschaft hatte er zwei Jahre zuvor, in dem Roman »Ein Mensch ganz frei«, gewarnt. Als vielfältig engagierter links-bürgerlicher Intellektueller vom NS-Regime mit dem Tode bedroht, flüchtet er ins Exil. Sein Weg führt ihn 1933 nach Paris, später dann ins schweizerische Ascona und Genf. Am 14. Oktober 1941 stirbt Arthur Holitscher krank und verarmt in einer Genfer Unterkunft der Heilsarmee. An seinem Grab hat kein geringerer als Robert Musil gesprochen. Die schönste Würdigung seiner Verdienste stammt jedoch nicht von Musil, sondern von Kurt Tucholsky, der viele Neuerscheinungen des Autors begeistert rezensiert hat: Galt ihm doch Arthur Holitscher als der »größte deutsche Reisende mit den Fotografieraugen, der Landschaft, Gesellschaftsbau und Menschen blitzartig einfängt und sie scharf kopiert, so scharf, dass man Porträt und Fotografen nicht mehr vergißt.«
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