Beschreibung
Aufstieg und Zerfall einer Familie: Oskar Loerkes Epos erzählt über fünf Generationen die Geschichte der Wendenichs, die unter dem Unstern einer Krankheit stehen. Es ist die Epilepsie, die das Verhältnis zwischen Vater und Sohn unerträglich belastet und zuvor schon das Ausleben der künstlerischen Neigungen des Vaters verhindert. Nicht von ungefähr wollte man in diesem Roman eine im bäuerlichen Milieu angesiedelte Variation der "Buddenbrooks" erkennen. Doch er ist viel mehr. Es finden sich in ihm grandiose Naturschilderungen, in ihrem Realismus geradezu apokalyptische Szenen auf einem Nordseekutter, die Darstellung vielfachen Scheiterns zahlreicher Nebenfiguren und nicht zuletzt die facettenreiche Behandlung der Epilepsie und der mit ihr einhergehenden psychosozialen Bedrängnisse. Es ist eine einzige Elegie des versäumten und verwehrten Lebens. Die durch die Krankheitserfahrung schmerzhaft gesteigerte Aufmerksamkeit der Hauptfigur begründet das Faszinierende des Romans, und Loerke findet einen ungekannten Ton: Die Schilderung extremer und zugleich luzider Bewusstseinszustände, dicht in die Erzählung hineingewobene Mythen und Märchenmotive wie das des monströsen, alles überschattenden Ogers sowie das Leitthema der Musik erzeugen einen schwebenden Erzählton zwischen Traum und Wirklichkeit. So etwas wird von Hütern der literarischen Konventionen in derartiger Konsequenz sonst nur der Lyrik zugestanden.
Autorenportrait
Oskar Loerke, 1884-1941, wird stets als Begründer der modernen Naturlyrik gewürdigt, der maßgeblich Autorinnen und Autoren wie Karl Krolow, Günter Eich, Wilhelm Lehmann, Christoph Meckel oder Elisabeth Langgässer beeinflusste. Als einer der Ersten erhielt er 1913 den später bedeutendsten deutschen Literaturpreis der Weimarer Republik, den Kleist-Preis, mit dem ungewöhnliche neue Begabungen gefördert wurden. Aber auch dank seiner mehr als zwanzig Jahre währenden Arbeit als Lektor für den Verlag S. Fischer sowie durch zahlreiche Essays und Kritiken ist er als wichtiger Akteur im Literaturbetrieb seiner Zeit noch heute bekannt. Vollkommen vergessen ist jedoch seine Prosa, obwohl Loerke damals auch als Erzähler Erfolg hatte. "Der Oger" ist Loerkes wichtigstes episches Werk, er hat über zehn Jahre daran gefeilt. Auch für die Entwicklung des deutschsprachigen Romans, insbesondere mit Blick auf das Erzählwerk des von Loerke geförderten Hans Henny Jahnn, ist die Bedeutung des "Oger" nicht zu überschätzen; es ist eines der zentralen Werke des sogenannten Magischen Realismus in Deutschland.
Leseprobe
Am Spätnachmittage des folgenden Sonntags ging Andreas vom Hofe, der Kirche entgegen, mit dem müden Verzweiflungswillen, den Oger zu suchen, von dem Johann im Fieber immer sprach und nach dem seine geisterhaften Augen immer durchs Fenster in der Richtung der Kirche suchten. [.] Sein Vater hatte gar nicht gewußt, was ein Oger ist, bis er die Fieberträume Johanns lange und grüblerisch tief genug belauscht hatte und nach vielstündigem Sitzen und Bangen am Bette des Kindes in diese verzerrte, schreckliche Welt ein wenig eingedrungen war. Der Oger war ein Riese. Die Kunde von ihm hatte wohl einmal Christine ihrem Sohne durch ein Märchen gebracht. Johann fabelte, der riesige Rauchfang über dem Herde wäre sein gelber vierkantiger Hut, und aus dem weißen und schwarzen Dampf, der zu ihm aufstieg, formte sich ein Gesicht. Wenn die Mägde einen Kessel vom Feuer nahmen, schlug dieses manchmal wie eine Zunge zu dem Gesichte heraus. Es schnitt Grimassen, vielleicht belästigt von der Salzbüchse, die in dem einen Ohre stand, und der Feuerzange, die wie ein Gehänge im anderen hing. Die Kacheln aber waren wie die weißen Bäffchen, die der Pfarrer umhatte, und mit der Brust ragte der Riese durch die roten Backsteinfliesen der Küche tief in die Erde hinein. In den Keller durfte man nicht gehen, dort war sein Herz.