Beschreibung
Spanien 1995. In dem vergessenen, von wenigen skurrilen Alten bewohnten Dorf Vallehermoso in der Sierra Nevada trifft Clara auf ihre Tante Rosalía. Diese erzählt ihr von ihrem Bruder José, Claras Vater, der in ihrer deutschen Familie verleugnet wurde, und sie erzählt von seiner Tochter Esperanza. Als Kleinkind ist Esperanza entführt worden, die Familie hat in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht herausfinden können, was mit Esperanza geschehen ist. Clara kann Rosalía nicht glauben, zu verrückt klingen ihre Schilderungen. Doch ein alter Gärtner berichtet von dem katholischen Kloster La Misericordia, in dem Esperanza verschwand und aus dem sie fünf Wochen später in den Armen der ehrenwerten Doña Matilda Sepúlveda wieder herausgetragen wurde. Clara geht auf die Suche nach ihrer Schwester Esperanza. Sie erfährt, dass im franquistischen Spanien mindestens 300.000 Kinder ihren oftmals politisch links orientierten Eltern weggenommen wurden. Viele wurden für tot erklärt und verschwanden in katholischen Einrichtungen. Den Eltern wurde das Sorgerecht entzogen. Die Kinder bekamen neue Namen und wurden unter dieser Identität ins Register eingetragen und für eine Adoption freigegeben. So verlor sich jede Spur ihrer Herkunft.
Leseprobe
Nie habe ich herausgefunden, was für ein Mensch mein Vater war. Auf dem einzigen Foto, das ich von ihm besitze, hält er die Augen geschlossen. Lange habe ich mir eingeredet, wären sie geöffnet und direkt auf mich gerichtet, dann erhielte ich Antworten auf alle meine Fragen. Auf dem Bild steht er in einem schwarzen Anzug am Kai des Hamburger Hafens, den Sankt Pauli Landungsbrücken, vor einem Schoner. Kräne, Spiere, Masten überragen ihn, scheinen auch ihn emporzuheben. Den Wolken näher als der Erde ist er. Mit der rechten Hand hält er sich am Tau der Gangway fest. Der Körper, das Gesicht sind der Kamera zugewandt, er lachte, doch als der Auslöser gedrückt wurde, waren seine Augen geschlossen. Als Kind dachte ich, er sei mit eben diesem Schiff aus Spanien eingetroffen. Seine dunkle Kleidung, die Schwerelosigkeit, das Schiff, alles unterstreicht die Einmaligkeit des Augenblicks. Eine Fotografie aus der Zeit vor mir, aber auf dem Weg zu mir. Ich drehe das Bild in den Händen, während ich im Wohnzimmer meiner Tante stehe und ratlos auf sie hinabsehe. Sie weint stumm. Tränen laufen ihr über die Wangen, sie tupft sie mechanisch mit einem Taschentuch ab. Mir wird bewusst, dass sie ihn erst vor einer Woche beerdigt hat. Vermutlich war mein Vater die wichtigste Person in ihrem Leben. Im Fernsehen läuft noch immer die spanische Familienserie. Rosalía hat den Ton abgestellt. Ich starre auf den Bildschirm, sehe den grauhaarigen Helden, der gerade auf den Hof einer Hazienda reitet, das Pferd vor einer jungen Frau zügelt und von oben herab auf sie einredet. Ächzend sackt Rosalía auf das Sofa, versinkt in Kissenbergen und Vergangenheit. Die Toten nehmen neben ihr Platz. Sie lauscht und nickt, flüstert unzusammenhängende Sätze in einem beruhigenden Singsang. Mich und den Grauhaarigen aus der Telenovela hat sie vergessen.