Wir hofften auf bessere Zeiten - Cover

Wir hofften auf bessere Zeiten

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783963621208
Sprache: Deutsch
Umfang: 416 S.
Format (T/L/B): 4 x 22 x 14.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Leseprobe

Kapitel 1 Detroit, Juli Im Lafayette Coney Island war es am späten Vormittag ausgesprochen ungemütlich. Wahrscheinlich war es hier auch sonst niemals gemütlich. Das traditionsreiche Fast-Food-Restaurant war klein, schmuddelig und überfüllt. Einen Stuhl freizuhalten, wie ich es in der Stoßzeit versuchte, wurde nicht gern gesehen. Ich war dankbar, als um Punkt zwölf Uhr, wie verabredet, ein älterer schwarzer Mann in einem ausgebeulten Trikot der Detroit Lions durch die Tür schlurfte. Über seiner hängenden Schulter trug er eine fleckige Ledertasche. 'Mr Rich?', überschrie ich den hohen Geräuschpegel. Er rutschte auf den freien Stuhl mir gegenüber. Um diesen Stuhl hatte ich schwer gekämpft. Hoffentlich würde ich für diese Mühe belohnt. 'Woher wussten Sie, dass ich es bin?', fragte er. 'Sie hatten gesagt, dass Sie ein Lions-Trikot tragen würden.' 'Ach ja. Das hatte ich, nicht wahr? Mein Sohn hat es mir geschenkt.' 'Können wir bestellen? Ich habe nur zwanzig Minuten Zeit.' Mr Rich drehte den Kopf zur Tür. 'Ich hatte gehofft, dass Ah, da ist er ja!' Die Tür ging auf und ein großer, athletisch gebauter Mann im eleganten Anzug und mit kurzen, schwarzen Dreadlocks trat ein. Er kam mir vage bekannt vor. 'Denny! Wir wollen gerade bestellen.' Mr Rich legte die Ledertasche auf seinen Schoß und rutschte auf seinem Stuhl zur Seite, um dem Neuankömmling Platz zu machen. Der Mann setzte sich auf die zwanzig Zentimeter Stuhl, die Mr Rich ihm freigeräumt hatte, ragte aber größtenteils in den ohnehin schon engen Gang. 'Das ist mein Sohn Linden.' Jetzt fiel bei mir der Groschen. Mein Blick flog zu den vielen Fotos von berühmten Persönlichkeiten hinüber, die im Laufe der Jahre hier gegessen hatten. Dort an der Wand hing er. Zwischen Eminem und Drew Barrymore thronte er über den lächelnden Mitarbeitern. Ich richtete mich ein wenig höher auf. 'Der Linden Rich, der für die Lions spielt?' 'Ja', antwortete er. 'Und Sie sind ?' 'Das ist Elizabeth Balsam', antwortete Mr Rich an meiner Stelle, 'die Journalistin, die die Skandalgeschichten in der Free Press über Korruption und Land Grabbing und die zehntausend - oder waren es elftausend? - nicht ausgewerteten Vergewaltigungsindizien, die vor einer Weile gefunden wurden, geschrieben hat. Sie hat auch über den Kilpatrick-Prozess berichtet.' Ich setzte das dezente Lächeln auf, das ich seit meinem Studium jeden Morgen vor dem Spiegel einübe, weil ich hoffe, dass es mich gleichermaßen aufgeschlossen wie intelligent erscheinen lässt. 'Ach ja. Okay.' Linden nickte. 'Ich sehe die Ähnlichkeit. In den Augen.' 'Das habe ich dir doch gesagt', erwiderte Mr Rich. 'Ja, das hast du.' 'Entschuldigung', mischte ich mich ein, 'welche Ähnlichkeit?' In diesem Moment kam ein Kellner in einem schmutzigen weißen T-Shirt, der zehn Teller auf einem Arm balancierte, an unseren Tisch und rief überschwänglich: 'Hallo, Denny! Was darf ich euch bringen?' Wir bestellten unsere Coney Dogs - für mich ganz klassisch mit Soße und Zwiebeln, für Linden mit allem, was sie in der Küche hatten, und für Mr Rich nur mit Soße. Er erklärte: 'Ich vertrage keine Zwiebeln mehr.' 'Und ich brauche Besteck', ergänzte ich mit Nachdruck. Während der Kellner dem alten Mann am Grill unsere Hotdog-Bestellung zurief, wandte sich Linden an seinen Vater: 'Du gibst ihr diese Kamera nicht.' 'Du hast nur von den Fotos gesprochen. Du hast gesagt, dass ich die Fotos vorerst behalten soll', sagte Mr Rich. 'Warum soll ich ihr die Kamera nicht geben? Sie gehört dir nicht, Denny.' 'Ihr gehört sie auch nicht.' 'Nein, aber sie kann sie Nora geben.' Linden atmete tief ein und blickte beiseite. Jedem anderen wäre es wahrscheinlich peinlich gewesen, wenn in seinem Beisein über ihn gesprochen wurde, als wäre er nicht da, aber in mir hatten die Jahre im unbarmherzigen Journalismusgeschäft diese absolut natürliche Reaktion fast abgetötet. Ungebeten schaltete ich mich in das Gespräch ein und begann, meine Fragen zu stellen. 'Am Telefon sagten Sie, man habe Ihnen ein paar Dinge ausgehändigt, die in der Asservatenkammer der Polizei gefunden wurden. Dinge, die einer Verwandten von Ihnen gehören?' 'Nein, sie gehören einer Verwandten von Ihnen. Ich erzähle Ihnen die Geschichte am besten der Reihe nach.' Ich widerstand dem Drang, mein Handy herauszuholen, um seine Worte aufzuzeichnen. Doch bevor Mr Rich seine Geschichte erzählen konnte, wurden unsere Coney Dogs bereits in keiner erkennbaren Ordnung auf den Tisch geknallt. Wir schoben die Teller hin und her, bis jeder seinen Hotdog hatte. Die beiden Männer mir gegenüber nahmen ihren in die Hand und bissen hinein. Ich begann, meinen mit Messer und Gabel zu schneiden, wofür ich von Linden einen 'Das soll wohl ein Witz sein!'-Blick erntete. 'Ich lese die Free Press seit Jahren', begann Mr Rich. 'Dabei ist mir immer wieder Ihr Name untergekommen. Ich weiß nicht, ob mir aufgefallen wäre, dass all diese Artikel von derselben Journalistin stammen, wenn ich Ihren Familiennamen nicht so gut kennen würde.' Ich nickte, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich ihm folgen konnte. 'Und ich habe mir überlegt: Vielleicht ist diese Elizabeth Balsam mit der Balsam verwandt, die ich kenne. Diesen Namen hört man in Detroit nicht oft. Ich weiß nicht, ob ich ihn außer in Verbindung mit Nora Balsam überhaupt schon einmal gehört habe. Sagt Ihnen ihr Name etwas?' Ich spießte ein Stück Wurst auf und tunkte es in die Soße. 'Nein, tut mir leid. Ich glaube nicht, dass ich jemanden mit diesem Namen kenne.' Linden hob die Hand, um seinem Vater zu signalisieren: 'Das habe ich dir doch gleich gesagt!' 'Nicht so vorschnell', erwiderte der alte Mann an seinen Sohn gewandt. 'Du hast selbst gesagt, dass sie genauso aussieht wie sie.' 'Ich gebe zu, dass Sie wie sie aussehen', gestand Linden ein. 'Aber - nehmen Sie es mir bitte nicht übel - irgendwie seht ihr alle gleich aus.' Ich lachte. Als Weiße in einer Stadt, in der über 80 Prozent schwarz sind, war ich es gewohnt, gelegentlich daran erinnert zu werden, wie sich Minderheiten in den meisten Teilen dieses Landes fühlten. Das störte mich nicht. Im Gegenteil, es machte mir bewusst, dass die Leserschaft, für die ich schrieb, nicht nur aus Leuten wie mir bestand. 'Ich würde nicht sagen, dass Sie ihr wie aus dem Gesicht geschnitten sind', schob Mr Rich nach, 'aber in der Augenpartie sehe ich eine deutliche Ähnlichkeit. Wenn Sie blonde Haare und vielleicht ein anderes Kinn hätten, würde es genau passen.' Ich trank einen Schluck Wasser. 'Ich weiß immer noch nicht, von wem Sie sprechen. Oder worum es überhaupt geht.' Mr Rich schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf. 'Ja, wir sollten der Reihe nach erzählen. Sie wissen besser als jeder andere, dass vieles in dieser Stadt im Argen liegt. Es gibt zu viele Probleme, um sie alle bewältigen zu können. Ich habe etwas gesucht, das sehr lange verloren war. Ich wusste, dass die Polizei es haben musste, aber versuchen Sie mal, in einer Organisation, die in fünf Jahren fünf Polizeichefs hatte, jemanden ans Telefon zu bekommen, der sich auskennt. Und dann haben sie viel wichtigere Dinge zu tun, als irgendeine alte Tasche zu suchen, die in einem Regal verstaubt.' Er hielt inne und lächelte breit. 'Aber ich habe sie endlich gefunden. Vor zwei Jahren habe ich einen Anruf bekommen und dann haben sie sie mir zurückgegeben. Und noch ein paar andere Sachen, mit denen ich gar nicht gerechnet hatte.' Er tippte auf die Tasche auf seinem Schoß, die erstaunlich sauber war und keinen einzigen Tropfen Hotdog-Soße aufwies. 'Diese Kamera gehört Nora Balsam. Außerdem habe ich eine ganze Schachtel voll Fotos für sie.' Ich merkte, dass ich die Augen zusammenkniff, während ich versuchte, die einzelnen Puzzleteile zusammenzufügen und zu kapieren, was das alles mit mir zu tun hatte. Hastig zwang ich mich, meine Gesichtsmuskeln zu entspannen und eine mitfühlende Miene aufzusetzen. 'Und Sie glauben, ich wäre mit ihr verwandt und könnte ihr die Sachen deshalb geben?' 'Das war meine Ho...