Beschreibung
Lider Ersan, 1945 in der südosttürkischen Provinz geboren, hat als Lehrerin in Ostanatolien und Istanbul gearbeitet, wo sie bis heute lebt. Während dieser Zeit hat sie ganz unterschiedliche Frauenschicksale, vorwiegend aus einfachsten Verhältnissen, kennengelernt, gesammelt und in eine literarische Form gebracht. Zehn Erzählungen berichten von der Last der Tradition, Armut, Gewalt, Landflucht, Krieg und Vertreibung, zerstobenen Träumen. Da ist die Bäuerin, die das falsche Leben zur Welt bringt. Das Vorstadtmädchen, dass zur Mörderin wird. Das armenische Kind, das im Schnee gefunden wurde und als ewige Braut Schutz findet. Die kurdische Bäuerin, die zwei Söhne an den Krieg verliert. Die Heilerin auf dem Lehmdach. Die von den Ufern des Kuban vertriebene Tscherkessin und die Flüchtlinge aus Thessaloniki. Die aufmüpfige Malerin, die zur Trinkerin wird und die für ein Pferd verkaufte Tochter, die in die Stadt flieht. Lider Ersan bewahrt diese Geschichten, die in vielen Familien erzählt, aber kaum öffentlich thematisiert werden, weil sie das Selbstbild einer patriarchalen Gesellschaft in Frage stellen.
Leseprobe
Ich war gerade zwölf Jahre alt geworden. Meine Brüste waren gewachsen, an manchen Stellen meines Körpers hatte ich die ersten Haare bekommen. Eines Tages warf mir meine Stiefmutter einen eng anliegenden Overall hin, den sie genäht hatte. »Zieh den an, man soll nicht so genau deine Brüste sehen. Schau den Männern an den Fahrkartenschaltern streng ins Gesicht und stürze Veysel nicht ins Unglück«, schärfte sie mir ein. Jeden Tag in der ersten Morgenröte gingen wir zu den Schaltern hinab und kehrten abends vor Einbruch der Dunkelheit zurück. Den Erlös der verkauften Ware gab ich ihm; und er trat einen Teil davon der Stiefmutter ab und fügte den Rest den Rücklagen hinzu, um neue Taschentücher zu kaufen. Einige Male erhob mein Vater seine Stimme gegen meine Stiefmutter: »Kevser, dieses Mädchen ist groß, schick sie jetzt nicht mehr fort, sie soll zu Hause bleiben.« Die Worte blieben ihm schier im Halse stecken. »Da ist nichts, wovor man Angst haben muss, Veysel ist bei ihr.« Das gab sie ihm zur Antwort. An jenem Tag hatte ich die meisten meiner Taschentücher nicht verkaufen können. Wir blieben, bis es dunkel wurde. Ich war von einer Unruhe erfüllt, deren Grund ich nicht kannte. »Wir sind spät dran, beeil dich.« So sagte Veysel. Eiligen Schrittes bemühte ich mich, ihm hinterherzukommen. Wir waren gerade dabei, den hinter den Fahrkartenschaltern bergan führenden Weg nach Hause hochzusteigen. Es war dunkel geworden. Eine gottverlassene Gegend. Plötzlich blieb Veysel stehen. »Komm, Schlange, ich zeig dir etwas.« Er betrat die verfallene Baustelle, in die wir manchmal gingen, um uns zu erleichtern. Zuerst zögerte ich. Dann folgte ich ihm. Er drehte sich um und kam an meine Seite. Er fasste mich an den Händen. Seine waren warm. Meine Hände wurden warm. »Komm, lass uns Hochzeit machen, ich werde dein Ehemann.« So sagte er. »Das geht nicht, ich, ich bin ja noch nicht groß genug.« So sagte ich. »Doch, doch, du bist schon groß.« Mit einer Hand fasste er mich an der Brust. »Schau, deine Brüste füllen meine Hand. Du hast feurige Augen. Du bist schon groß.« Es kam mir gar nicht in den Sinn, mich zu sträuben, geschweige denn zu schreien. Ich war Veysel ausgeliefert. Er breitete sein Jackett auf dem Boden aus. Als ich wieder klar bei Verstand war, lag ich auf der Erde und er auf mir. »Jetzt bin ich endlich dein Ehemann.« So sagte er. Ich wollte schreien. Doch die Stimme versagte mir. Still und stumm weinte ich. Etwas Warmes rann zwischen meinen Oberschenkeln hinab, begleitet von einem unerträglichen Schmerz. Mein ganzer Körper fühlte sich an, als hätte man ihn mit einem Messer in Scheiben geschnitten. Ich hatte wohl einen Schock, wie an dem Tag, als meine Mutter im Tandir verbrannte. Das Gewicht auf meinem Körper wich von mir. Ich lag reglos da. Veysel öffnete die Packen der Taschentücher, die ich nicht losgeworden war, einen nach dem anderen und putzte mich damit ab. Dann nahm er mich bei den Händen und zog mich hoch. Seine Hände waren immer noch warm. »Ich bin jetzt dein Ehemann. Von nun an wirst du keine Taschentücher mehr verkaufen.« Er vorneweg, ich hinter ihm-so stiegen wir im Dunkeln den Abhang hoch. Schnurstracks nach Hause.
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