Beschreibung
Atomforschung und Volkskunde, Vitamine und Eugenik sind wissenschaftliche Themen, die durch öffentliche Kommunikation mit konstituiert und geformt wurden. Denn was Wissenschaft ist, wird nicht allein an den Orten der wissenschaftlichen Praxis entschieden, sondern auch in der Öffentlichkeit. In diesem Band wird anhand der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts gezeigt, welchen Gewinn beide Seiten aus dem wechselseitigen Austausch ziehen. Die Publikation 'Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander' auf den Seiten des Deutschen Museums
Autorenportrait
Arne Schirrmacher, Dr. rer. nat., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte am Deutschen Museum. Sybilla Nikolow, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld.
Leseprobe
Die Frage, was Wissenschaft ist, wird nicht allein an den Orten der wissenschaftlichen Praxis entschieden, sondern auch in der Öffentlichkeit. Das gilt nicht erst seit dem 20. Jahrhundert. Die Wissensproduktion war in unterschiedlichem Maße seit ihrem historischen Ursprung von ihrem Verhältnis zur Öffentlichkeit geprägt. Da die Öffentlichkeit an der Definition und Abgrenzung dessen, was und was nicht als Wissenschaft gelten durfte, immer schon mitbeteiligt war und der Wissenschaft dadurch gesellschaftliche Anerkennung verschaffte oder vorenthielt, haben sich beide Bereiche in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander entwickelt. Auch wenn das, was heute in demokratischen Gesellschaften als Öffentlichkeit bezeichnet wird, sich erst im bürgerlichen Zeitalter herausgebildet hat, ist die Produktion von Wissen von Beginn an durch ihren jeweiligen gesellschaftlichen Kontext geprägt worden, in dem ihre Praxis eingebettet war. Die Betrachtung der Beziehung von Wissenschaft und Öffentlichkeit erlaubt daher auch Einblicke in die Gesellschaft der entsprechenden Epoche. Kontext der Wissenschaft konnten und können für bestimmte Zeiten und Orte Bereiche wie Religion, Politik oder Wirtschaft sein. Von dort schöpften Wissenschaftler Motivationen für ihre Forschung, aus diesen Gesellschaftsbereichen wurden aber auch bestimmte Erwartungen, Nachfragen und Bedürfnisse an sie herangetragen. Die Besonderheiten des Beziehungsgeflechts aus Wissenschaft und Öffentlichkeit in der modernen Gesellschaft sind kein Sonderfall der Geschichte, sondern kennzeichnen gravierende Veränderungen auf beiden Seiten. Die verbreitete Rede von der Öffentlichkeit erscheint unangemessen, aber auch der bloße Verweis auf sektorale Öffentlichkeiten ist nicht hinreichend, um über das Publikum der Wissenschaft Aufschluss zu gewinnen. Wissenschaft und die aus und parallel zu ihr hervorgegangene Technik waren stets selbst daran beteiligt, den öffentlichen Kommunikationsraum auszuweiten, zu vervielfältigen und zu fragmentieren. Die sich hier formierenden Öffentlichkeiten existieren indes nicht als eigenständige, unverwechselbare und beständig festgelegte Akteure. Sie realisieren sich erst in der Praxis durch Prozesse der Kommunikation. Daher liegt es nahe, den Vermittlungs- und Verbreitungsmedien ein besonderes Gewicht in der historischen Analyse zu geben. In diesem Vorgang gewannen die Wissenschaften im 20. Jahrhundert gerade auch mit Hilfe der Medien an öffentlichem Ansehen. Dieses öffentliche Bild blieb aber auch nicht von negativer Kritik verschont, hatten doch die Wissenschaften gerade in diesem Jahrhundert mit den vielleicht größten Vertrauenskrisen in ihrer Geschichte zu kämpfen. Der vorliegende Band versucht, sich aus drei Perspektiven dem Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit zu nähern: Er plädiert erstens für eine konsequente Historisierung und Kontextualisierung der Beziehungsgeschichte zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit mit Hilfe von Fallstudien und vergleichenden Analysen, die das Ziel verfolgen, das komplexe Beziehungsgeflecht herauszuarbeiten. Dabei geht der Blick auf die Relation von Wissenschaft und Öffentlichkeit immer in beide Richtungen. Gesucht wird nach der Mobilisierung von Ressourcen füreinander, einem Prozess, in dem beide Seiten eng miteinander verbunden sind. Betrachtet werden verschiedene Wissenschaftsobjekte (Atome, Vitamine), Wissensfelder (Eugenik, Volkskunde) sowie Konzepte und wissenschaftliche Weltentwürfe, wie sie von den Wissenschaften im Zusammenspiel mit dem jeweiligen adressierten und interessierten Publikum - das durchaus differieren konnte - entwickelt wurden. Zweitens werden dabei verschiedene Öffentlichkeiten in ihrer Haltung zu ähnlichen wissenschaftlichen Praktiken und Wissensbeständen diachron und regional verglichen. Dies ermöglicht zum Beispiel für die Eugenik einen internationalen Vergleich und für die Volkskunde einen historischen Längsschnitt durch verschiedene politische Systeme des 20. Jahrhunderts. Neben der Frage, welche Wissenschaft jeweils mit welcher Öffentlichkeit im konkreten Fall in Beziehung trat, gilt unser Interesse aber auch den Vermittlungsprozessen selbst, so der Visualisierung und Fiktionalisierung in populären Medien am Beispiel von Abbildungen und Romanen sowie den Vereinen als gesellschaftlichen Räumen, in denen wissenschaftliche Deutungsmuster mit gesellschaftlichen Werten in Beziehung gesetzt wurden. Drittens soll mit dem Band der regionale Ansatz bisheriger Beziehungsgeschichten gewinnbringend erweitert werden. Die Beiträge konzentrieren sich dabei auf das 20. Jahrhundert und die der wissenschaftlichen Moderne und modernen Gesellschaft vorausgehende Entwicklung. Diese Epoche erscheint besonders aufschlussreich, weil sie allgemein für den Wandel von der vornehmlich bürgerlichen Öffentlichkeit der Wenigen zur demokratischen Öffentlichkeit der Vielen und von einer disziplinär verfassten Wissenschaft zur so genannten postnormalen Wissensordnung der Wissensgesellschaft steht. Da diese Entwicklung bis an die unmittelbare Gegenwart heranreicht, können die Ergebnisse des Bandes auch dabei helfen, den aktuellen Debatten über ein angemesseneres Verhältnis zwischen Wissenschaften und ihren Öffentlichkeiten die relevante historische Grundlage zu geben.
Inhalt
Vorwort9 Das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit als Beziehungsgeschichte: Historiographische und systematische Perspektiven Sybilla Nikolow/Arne Schirrmacher11 I. Wissenschaftsvermittlung zwischen Push und Pull Der lange Weg zum neuen Bild des Atoms Zum Vermittlungssystem der Naturwissenschaften zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik Arne Schirrmacher39 "Vitaminfragen - kein Vitaminrummel?" Die deutsche Vitaminforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit Ulrike Thoms75 Neue Wissensofferten, alte Wissensbedürfnisse und verschiedene Transaktionsmodelle: Drei Thesen zum naturwissenschaftlichen Vermittlungsdiskurs Arne Schirrmacher/Ulrike Thoms97 II. Medien der Wissenschaftskommunikation Künstlerische und technische Propaganda in der Weimarer Republik Das Atelier der Brüder Botho und Hans von Römer Anja Casser113 Wissenschaft - Literatur - Öffentlichkeit Die Bedeutung der Science-Fiction in den 1970er Jahren für die öffentliche Debatte zum Klonen Christina Brandt137 Populärkultur und Wissenschaft: Science-Fiction und populäres Bild als Medien der Wissenschaftskommunikation Christina Brandt/Anja Casser165 III. Die Öffentlichkeit als Objekt und Adressat von Wissenschaft "Volkskunde für unser Geld"? Wissenschaft als Projekt in Zusammenarbeit mit verschiedenen Öffentlichkeiten Ina Dietzsch179 "... eine neue, mit dem Volk verbundene Kultur entwickeln" Laienkunst als Ressource für die Etablierung der Volkskunde in der frühen DDR Cornelia Kühn197 "Bilder vom Volk" - Ressourcen und Karrieren Wolfgang Kaschuba217 IV. Können Öffentlichkeiten Wissenschaften machen? Koalitionen des Nichtwissens? Welteislehre, akademische Naturwissenschaften und der Kampf um die öffentliche Meinung, 1895-1945 Christina Wessely225 Aufklärung durch und mit Beobachtungstatsachen Otto Neuraths Bildstatistik als Vehikel zur Verbreitung der wissenschaftlichen Weltauffassung des Wiener Kreises Sybilla Nikolow245 Öffentlichkeit als epistemologische und politische Ressource für die Genese umstrittener Wissenschaftskonzepte Sybilla Nikolow/Christina Wessely273 V. Werte der Öffentlichkeit, Deutungsangebote der Wissenschaft "We cannot wait until all doubts are removed" Eugenische Kriminalitätsdiskurse und die britische Öffentlichkeit, 1900-1935 Sabine Freitag289 Zwischen Aufklärung und Sittlichkeit Zum Spannungsverhältnis von Eugenik und Öffentlichkeit im katholischen Milieu im Österreich der Zwischenkriegszeit Monika Löscher319 Vereine als Vermittler zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit Sabine Freitag/Monika Löscher339 Ausblick Wissenschaft(en) und Öffentlichkeit(en) als Ressourcen füreinander Weiterführende Bemerkungen zur Beziehungsgeschichte Mitchell G. Ash349 Autorinnen und Autoren365 Namensregister369
Schlagzeile
Studien zur historischen Sozialwissenschaft Herausgegeben von Gerhard Botz und Josef Ehmer>