Anne Boyer schreibt in "Die Unsterblichen" von ihrer Brustkrebserkrankung. Aber der Text ist keine Lebensmut spendende Überlebensgeschichte, nach der man sich besser fühlt, weil die Kranke wie eine Heldin den Krebs besiegt, oder nach der man dankbar ist für die eigene Gesundheit und plötzlich jeden neuen Tag als ein Geschenk sieht. Boyer wendet sich bewusst ab von den kitschigen oder rührseligen Erzählungen, die Mut machen oder Trost spenden sollen. "Ich will Krebs nicht so erzählen, wie es mir beigebracht wurde. Beigebracht wurde mir die Geschichte so, dass jemand eine Diagnose erhält, behandelt wird und entweder lebt oder stirbt. Lebt sie, ist sie eine Heldin. Stirbt sie, ist sie ein Plot Point." Stattdessen schreibt Boyer über all die unfassbaren Aspekte ihrer Krebsdiagnose, sowohl auf sehr persönlicher, als auch auf strukturelle Ebene. Sie schreibt über ihre Schmerzen, berichtet von all den unterschiedlichen Arten von Schmerz, die sie kennenlernt und aushalten muss. "Wenn Fingernägel sich von den Fingern lösen, schmerzt es so stark, wie es sollte, wenn Fingernägel sich von den Fingern lösen." Sie schreibt darüber, wie unglaublich toxisch die Chemotherapie ist - das Mittel, das sie bekam, ist die medikalisierte Variante eines Stoffes, der 1916 als chemische Waffe entwickelt worden war: Senfgas - seit 1925 als Waffe verboten. Sie schreibt über das Gefühl des Verlusts der Autonomie über ihren Körper. "Ich wurde betäubt und keiner hat mir erklärt, was sie mit mir gemacht haben [...] Ich weiß nicht mal, wieviele Löcher ich habe." Eine der Stärken dieses Buches ist, dass Boyer neben diesen wirklich beeindruckenden, ehrlichen und schonungslosen Schilderungen ihrer eigenen Erfahrung den Blick weitet und z.B. auch strukturelle Probleme medizinischer Versorgung in einer kapitalistischen Gesellschaft analysiert. Hinzu kommen medizinhistorische Betrachtungen, philosophische Überlegungen zu Krankheit und Heilung, andere literarische Zeugnisse von Autorinnen wie Susan Sontag oder Audre Lorde, und anderes mehr. Damit wird "Die Unsterblichen" zu einer sehr umfassenden Lektüre, die mich umfangreich informiert, beeindruckt und auf jeden Fall zum Nachdenken gebracht hat. Absolut empfehlenswert! "Nichts von dem, was ich hier geschrieben habe, ist für die Gesunden und Unbeschädigten bestimmt, und wäre es das, hätte ich es niemals geschrieben. Jede:r, der:die im Moment nicht krank ist, war einmal krank oder wird bald krank sein."