Beschreibung
Die Klage über mangelnde politische Kompetenz unter Berufspolitikern ist weit verbreitet. Emanuel Richter zufolge rührt sie von einem Missverständnis her, das er historisch auf das Ideal der absoluten Fürstenherrschaft zurückführt: Auch in der Demokratie wollen wir uns auf die Kompetenz von starken Führungsfiguren verlassen können, auf die Professionalität und die Durchsetzungskraft politischer Repräsentanten. Anhand heutiger Berufskarrieren und Erfolgskurven in der Politik zeigt Richter, wie unproduktiv solche Vorstellungen sind, zumal sie Politikverdrossenheit Vorschub leisten. Demgegenüber zeichnet er die Alternative einer entschlossenen Demokratisierung, die den Bürgerinnen und Bürgern mehr Urteilsvermögen und Handlungsfähigkeit zuspricht und die politische Kompetenz gleichmäßiger auf Laien und Profis in der Politik verteilt.
Autorenportrait
Emanuel Richter war nach Lehrtätigkeiten in den USA von 2000 bis 2020 Professor für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen. Seitdem ist er als Publizist sowie als Kommentator des politischen Geschehens in Fernsehen, Rundfunk und Presse tätig.
Leseprobe
Was ist politische Kompetenz? Man vermag es nicht genau zu sagen, aber eines scheint gewiss: Von den Politikern, die berufsmäßig das Regierungsgeschäft ausüben, wird erwartet, dass sie die politische Kompetenz geradezu "verkörpern". Politische Kompetenz ist demnach eine besondere Qualifikation, die politische Laien - also Wahlbürgerinnen und Wahlbürger - den Profis in der Politik abverlangen. Sie ist ein berufsspezifisches Attribut, das die politische Elite besitzen soll. Blickt man aber auf das öffentliche Ansehen, das die gerade amtierenden Politiker allerorten genießen, dann stellt man irritiert fest: Es herrschen Enttäuschung, Ärger und Unverständnis über deren Amtsausübung. Es gibt ein weit verbreitetes Klagelied über den Mangel an politischer Kompetenz. Das öffentliche Bild des Politikers ist von Politikerverdrossenheit durchtränkt und lässt sich folgendermaßen skizzieren: Die politischen Amtspersonen - vornehmlich die männlichen, in geringerem Ausmaß die weiblichen - verstehen zu wenig von der politischen Sache, verharmlosen Probleme oder sehen diese gar nicht; sie treten aber öffentlich im Gestus des umsichtigen und routinierten Experten auf, der jede Problemlage beherrscht. Sie kaschieren ihre schlechte Leistungsbilanz durch großspuriges Auftreten oder unverfrorene Lügen. Sie wollen öffentliche Gefolgschaft um jeden Preis und wandeln sich zu Populisten und Demagogen, wenn es um die öffentliche Unterstützung zur Durchsetzung ihrer eigenen Vorstellungen und Ziele geht. Politiker sind selbstsüchtig nur auf ihr eigenes materielles Wohl bedacht und betreiben Privilegienwirtschaft. Sie erweisen sich als geltungsbedürftige Egomanen, die sorgsam ihren Personenkult pflegen und ständig das Rampenlicht der Medien suchen. Ihr professioneller Status ist das Ergebnis von fragwürdigen Ausleseprozessen in den Parteien, in denen vor allem Fähigkeiten wie opportunistische Anpassungsbereitschaft, kaltschnäuzige Durchsetzungsfähigkeit oder hemmungsloses Machtstreben als begründete Aussicht auf die eigene Karriere und auf politischen Einfluss zählen. Alle Aufstiegschancen werden begleitet von einer Protektion, die sowieso nur innerhalb von bestimmten "Klassen" gepflegt wird und die letztendlich nur zu deren Selbsterhaltung dient. Diese Symptome einer Politikerverdrossenheit mischen sich mit einer Enttäuschung der Bürgerinnen und Bürger über die Resultate des politischen Entscheidens und verbinden sich zu einer allgemeinen Politikverdrossenheit. Die Wahlbeteiligung sinkt auf allen Ebenen kontinuierlich und in beträchtlichem Ausmaß. Einige mögen vielleicht noch aus einer sehr gezielten Protesthaltung heraus ihre Stimmabgabe verweigern, viele tun es - zumindest nach eigenem Bekunden - aus bloßer Enttäuschung und Resignation. Sie haben den Eindruck, dass ihre Stimme kein Gewicht mehr besitzt und nichts zu verändern vermag in einem politischen Handlungsgefüge, in dem Dilettanten, ausgestattet mit dem Status des Profis, abgeschottet vom Volk regieren. Die Haltung des politischen Desinteresses ist noch umfassender und zeugt von einem resignativen Abschied aus jeglicher Auseinandersetzung mit den Vorgängen in der politischen Sphäre. Es herrscht die Überzeugung: Was politisch entschieden wird, gereicht einem im Zweifelsfall sowieso nur zum eigenen Nachteil. Sofern man nicht den einflussreichen Gruppen der Gesellschaft angehört, erlangt man weder eine hörbare Stimme noch eine sichtbare Anerkennung durch die Repräsentanten der politischen Macht. Die bestenfalls bei Wahlen in Erscheinung tretenden Bürgerinnen und Bürger sehen sich als Benachteiligte, Unbeachtete, Ausgestoßene. Das trifft vor allem für die wachsende Zahl derjenigen zu, denen die Sorgen um die Sicherung des eigenen materiellen Lebensniveaus keine Zeit mehr dafür lässt, den Fortgang der öffentlichen Angelegenheiten intensiv zu verfolgen oder sich gar selbst daran zu beteiligen. Einerseits überwiegt Enttäuschung über die Profis der Politik - andererseits fehlt innerhalb der Bürgerschaft das Vertrauen in die eigene, laienhafte politische Kompetenz. Die Trennung zwischen Regierenden und Regierten ist offenkundig in der Öffentlichkeit so weit verinnerlicht worden, dass man sich als Alternative zur Politikverdrossenheit keine verstärkten Eigenanteile am politischen Handeln vorzustellen vermag. Aus der Klage über den Mangel an politischer Kompetenz resultiert merkwürdigerweise kaum die eigentlich konsequente Forderung nach mehr oder nach einflussreicherer demokratischer Teilhabe. Die hohen Erwartungen an die Kompetenz der Politiker halten sich hartnäckig - trotz des Eindrucks ihres Scheiterns an der Realität. Das ist erklärungsbedürftig, und das reizt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den unstimmigen Vorstellungen über politische Kompetenz. Aus der Lücke zwischen enttäuschten Erwartungen und mangelnder öffentlicher Bereitschaft, die kritisierte Leistungsbilanz der politischen Profis durch partizipative Eigenleistung so weit wie möglich auszugleichen, ergibt sich eine ernüchternde Lagebeschreibung hinsichtlich des gegenwärtigen Zustandes der Demokratie. Die Demokratie schrumpft zu einem von den Eliten getragenen, stabilen Ordnungssystem mit funktionstüchtigen Institutionen, dem jedoch die Unterstützung und Teilhabe seitens des regierten Volkes abhanden kommt. Zur Kennzeichnung dieser Krise hat sich - voreilig und letztendlich unzulässig - der Begriff der "Postdemokratie" eingeschlichen: "Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten" (Crouch 2008: 10). Was hier - in der Lagebeschreibung durchaus zutreffend - als ein Zustand nach der Demokratie bewertet wird, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ein davor in Hinblick auf ihre substantielle Entfaltung. Das Verhältnis zwischen politischer Verdrossenheit und demokratischen Potenzialen muss also im umgekehrten Abhängigkeitsverhältnis betrachtet werden: Indem die Möglichkeiten zur demokratischen Teilhabe nicht ausgeschöpft werden, kann sich Apathie ausbreiten, die einseitig als unabwendbare Erschöpfung der Demokratie missverstanden wird. Apathie kann demnach die mangelnde Anwendung der Demokratie anzeigen. Das allgemeine Verständnis von Demokratie muss also erst einmal mit der Einsicht verbunden werden, dass politische Kompetenz nicht das ausschließliche Geschäft professioneller Eliten sein kann, sondern als eine Befähigung begriffen werden muss, die sich auch durch die Betätigung laienhafter demokratischer Akteure entwickelt. Es herrschen demnach falsche Vorstellungen über die politische Kompetenz, die sich auf unausgeschöpfte Potentiale demokratischer Teilhabe zurückführen lassen. Im vorliegenden Buch geht es darum, demokratische Alternativen zum herkömmlichen Verständnis von politischer Kompetenz aufzuzeigen. Es gilt zunächst herauszuarbeiten, dass sich hartnäckig öffentliche Ideale politischer Kompetenz halten, die sich mit der Vorstellung herausragender Qualifikationen und besonderer Eignung für das politische Amt verbinden. Diese Ideale heften sich an die imaginäre Person eines fachlich einschlägig ausgebildeten, sachlich erfahrenen, in seiner Persönlichkeit gefestigten und in seiner Erscheinung charismatischen Profis, der als gewählte "Amtsperson" in der politischen Sphäre kompetent für uns die politischen Entscheidungen trifft. Die demokratische Wahl erscheint als das einzig geeignete und hinreichende Mittel, um der unterstellten Eignung des Gewählten Geltung zu verschaffen. Viele der politisch enttäuschten und resignierten Bürgerinnen und Bürger erwarten dementsprechend unverdrossen, von Respekt einflößenden Autoritäten und Meinungsführern, von Persönlichkeiten, die sich überzeugend auf den Bühnen der öffentlichen Medien präsentieren, umf...
Inhalt
Inhalt Vorwort 7 Einleitung 9 TEIL I Der antiquierte Traum von politischer Führung 1. Das sublime Ideal der Fürstenherrschaft 23 Fürstenherrschaft alt und neu 23 Das geschichtslose Bekenntnis zur politischen Führung 39 2. Die Sehnsucht nach der personalisierten Macht 44 Personen statt Programme 44 Populismus: der halbierte common sense 59 3. Die Tücken politischer Repräsentation 68 Mandatstheorie und Interessenbindung 68 Repräsentation als Fetisch 76 TEIL II Meinungsführer und Medienstars 4. Profile der politischen Persönlichkeit 91 Die Rolle des Charismas 91 Das Berufsethos 110 5. Die Schulung der Kompetenz 117 Elitenherrschaft oder Qualifikationsauslese 117 Die Standardisierung des Aufstiegs 127 6. Die Verdrängung des Laien durch den Profi 139 Die politische Klasse 139 Die Quereinsteiger 161 7. Der politische Apparat 168 Parteienherrschaft 168 Korruption und politischer Apparat 180 8. Medienstars und Männlichkeitsideale 189 Der mediale Starkult 189 Männlichkeitsideale 200 TEIL III Ankunft im demokratischen Herrschaftsideal 9. Das politische Volk 211 Der Laie als der Profi 211 Rollentausch und Ämterrotation: der Politiker auf Zeit 222 10. Politische Urteilsfähigkeit 234 Die Anleitung zur selbständigen Urteilsbildung 234 Die "Ermöglichungskultur": Bildung zur Demokratiefähigkeit 241 11. Öffentlichkeit und politische Kompetenz 252 Öffentlichkeit und Deliberation 252 Die digitalen Teilöffentlichkeiten 259 Literatur 269 Personenregister 283
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