Kirsty Bell hat mit "Gezeiten der Stadt" eine gelungene Verbindung zwischen autobiographischem Essay und Berliner Stadtgeschichte geschrieben. Anhand des Landwehrkanals vor ihrer Tür erkundet sie die Geschichte Berlins, sucht in den Grundbucheinträgen ihres Hauses nach vergangenen Bewohner*innen und versucht, deren Lebensgeschichte mit der Geschichte der Stadt in Verbindung zu bringen.
Wer eine ausführliche historische Abhandlung sucht, ist hier am falschen Buch. Das ist aber auch gar nicht Bells Anspruch. Wer sich hingegen durch die lebhaft erzählten und an Einzelschicksalen orientierten Vignetten am Landwehrkanal entlangführen lassen möchte, ist hier genau richtig. Bells Perspektive als Zugezogene ist stellenweise sehr erleuchtend, an Teilen fehlt einem aber die eingesessene Perspektive, die Betrachtungen von jemandem, dem die Stadt noch näher ist. Auch die verstreuten, leicht esoterisch anmutenden Zwischenspiele, in denen sie eine Feng-Shui-Meisterin in ihre Wohnung einlädt, oder eine Systemaufstellung mit den toten ehemaligen Mieter*innen ihres Hauses durchführt, um über deren persönliches Schicksal zu spekulieren, hätten auch weggelassen werden können, tun den guten Seiten des Buches aber auch keinen Schaden an. Besonders anregend ist die offensichtliche Leidenschaft Bells an den Geschichten, die sie untersucht, ihre ausführliche, tiefgehende und gut dargestellte Recherche, auf die sie ihrer Leser*innen mitnimmt, und ihre Fähigkeit, Historisches und Persönliches, Gegenwärtiges und Vergangenes zu einem runden Ganzen zu verbinden.