Jüdisches Denken - Theologie, Philosophie, Mystik 4

Zionismus und Schoah, Jüdisches Denken - Theologie, Philosophie, Mystik 4

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593391410
Sprache: Deutsch
Umfang: 660 S.
Format (T/L/B): 4.8 x 23.3 x 16.3 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Der Zionismus und die Schoah sind epochale Wendepunkte sowohl in der jüdischen Geschichte als auch im jüdischen Denken. Der Zionismus brach mit dem 'Exil- Judentum', gab die alten typologischen Geschichtsvorstellungen auf und schob das rabbinisch- messianische Erlösungskonzept beiseite. Der Genozid an den europäischen Juden führte zu einer weitgreifenden Debatte über die Schlussfolgerungen, die aus dieser Katastrophe zu ziehen seien, und löste Fragen der Politik, der Theologie, der Philosophie, der jüdischen Identität und der Zukunftsgestaltung des jüdischen Volkes aus. Auch wenn beide Ereignisse nicht ursächlich miteinander verbunden sind, wurden sie zunehmend im Denken zusammen gesehen: die Staatsgründung Israels (1948) als letzter psychologischer, religiöser und physischer Rettungsanker für die Weiterexistenz des Judentums nach der Schoah. Dieser Neujustierung des Judentums durch Schoah und zionistischer Staatsgründung ist Band 4 gewidmet.

Autorenportrait

Karl Erich Grözinger ist Professor emeritus für Religionswissenschaft und Jüdische Studien an der Universität Potsdam und war Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Er ist Vorsitzender der Ephraim Veitel Stiftung, der ältesten und von ihm seit 2007 wiederbelebten jüdischen Stiftung in Deutschland.

Leseprobe

EINFÜHRUNG 1. Zionismus und Schoah - Wendepunkte der jüdischen Geschichte und des jüdischen Denkens Der Zionismus und die Schoah sind jedes für sich und beide zusammen nicht nur epochale Wendepunkte in der jüdischen Geschichte, sondern ebenso im jüdischen Denken. Der Zionismus hat mit dem Denken des "Exil-Judentums" gebrochen, hat die alten typologischen Geschichtsvorstellungen aufgegeben, das rabbinische messianische Erlösungskonzept beiseitegeschoben und ist in die politische Geschichte zurückgekehrt. Das gottergebene Warten auf die Rückführung des Volkes Israel in das verheißene Land, das Bewusstsein, in einem alte Sünden sühnenden Exil dulden zu müssen, all dies sollte nun nicht mehr gelten. Neue Formen der Selbsteinschätzung und Identitätsbestimmung sowie daraus abgeleitete Handlungsmaximen stellten in vielen Bereichen einen vollkommenen Bruch mit der rabbinischen Vergangenheit dar, wie sie seit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 der bürgerlichen Zeitrechnung gegolten hatten. Hier wird ein neues Judentum gebaut, welches das zweitausendjährige "Exil-Judentum" ablösen wollte und sollte - dies gilt in gewisser Weise nicht nur für die säkularen, sondern auch für die religiösen Formen des modernen Zionismus. Ganz anders aber genauso grundlegend hat die Schoah das jüdische Denken in neue Bahnen gelenkt. Natürlich gab und gibt es bis heute orthodoxe Denkweisen, welche die Schoah nur als ein weiteres Glied der jahrtausendealten Verfolgungs- und Exils-Geschichte Israels sehen wollen und nach deren Ansicht hier kein qualitativ neues Geschehen stattgefunden hatte. Aber eine Vielzahl - gerade der fortschrittlichen, aber auch orthodoxer Denker, sieht mit der Schoah einen qualitativen Bruch, ein Geschehen, das sich von den bisherigen Verfolgungen der Juden nicht nur dem quantitativen Ausmaß nach unterscheidet. Solche Denker sehen deswegen auch die Notwendigkeit, das jüdische Selbstverständnis als Individuum wie als Nation neu zu überdenken, zu überlegen, wie jüdisches Leben nach diesem grundstürzenden Ereignis neu zu rechtfertigen, zu bauen, zu planen und zu stärken sei. Der Genozid, der ein Drittel der jüdischen Weltbevölkerung auslösche und bis zu 80 Prozent der religiös-rabbinischen Elite, musste eine kritische Neubewertung für Politik, Theologie, Philosophie, jüdische Identität und die nötige Zukunftsgestaltung der Verfasstheit des jüdischen Volkes auslösen. Es galt die grundlegende Frage zu stellen, ob das Judentum nach diesem furchtbaren Morden noch eine Zukunft als eigene religiöse oder kulturelle Entität haben kann, und wenn ja, wie diese zu sichern sei. Diese beiden das Denken grundsätzlich herausfordernden so unterschiedlichen Ereignisse, das eine positiv, das andere negativ, wurden von vielen der hier vorgestellten Denker im Nachhinein als eine dialektische Einheit begriffen, sei es, dass die Schoah das Anliegen des Zionismus rechtfertigt, sei es in dem Sinne, dass der Zionismus - vor allem dessen Krönung in der Staatsgründung Israels - nach der Schoah der einzig verbliebene Rettungs- und Hoffnungsanker der Überlebenden Individuen und des Volkes Israel als Ganzem sei - dies durchaus auch mit religiösen und heilsgeschichtlichen Übertönen. Die Gründung eines jüdischen Staates nach 2000 Jahren Exil hat insbesondere nach dem bloßes Entsetzen und Starre auslösenden Genozid am europäischen Judentum nicht nur für die in diesen Staat Israel geflohenen oder eingewanderten Juden eine Neujustierung des jüdischen Selbstverständnisses erfordert, sondern für die gesamte Diaspora, die jetzt nicht mehr Exil genannt zu werden braucht. Das gesamte jüdische Denken im zwanzigsten Jahrhundert muss daher in ein Denken vor Schoah und Staatsgründung und ein solches danach unterschieden werden. Diese beiden Ereignisse sind wie eine Wasserscheide, wie ein tiefer Graben, selbst wenn manche orthodoxen Kreise dies nicht so sehen mögen. Aber immerhin haben die Ereignisse der Schoah auch bei vielen orthodoxen Antizionisten ein Umdenken bewirkt, so dass es nur ganz kleine ?asidische Gruppen oder die sogenannten Neture Karta (Hüter der Stadt) sind, deren Antizionismus sich bis heute als eine aktive Gegnerschaft gegen den neugegründeten jüdischen Staat ausdrückt. Aber gerade auch diese Haltung hat durch die beiden Ereignisse eine neue Bedeutung bekommen, die oft tragische Züge annimmt. Nachdem im Jahre 1948 das zionistische Ziel der Staatsgründung erreicht worden war, erhob sich natürlich die Frage, ob sich der Zionismus als politisch-ideologische Bewegung erübrigt hat und seine Weiterführung bis in die Gegenwart noch gerechtfertigt sei, oder ob es noch ausstehende Vorhaben zu erarbeiten gebe. Die Antwort auf diese Frage ist je nach ideologischer Ausrichtung oder Parteizugehörigkeit der Disputanten umstritten. Schoah und Staatsgründung sind Ereignisse, die chronologisch im Wesentlichen zu all jenen Autoren und Denkern gehören, die im 20. und 21. Jahrhundert sich Gehör verschafften und die zunächst allesamt im vierten Band des Jüdischen Denkens behandelt werden sollten, nun aber auf zwei Bände aufgeteilt wurden. Es stellte sich für die Aufteilung des Stoffes die Frage, inwieweit es berechtigt ist, das Denken zu Zionismus und Schoah aus seinem chronologischen Kontext herauszunehmen und ihm einen eigenen, gar gemeinsamen Band des Jüdischen Denkens zu widmen. Die Antwort auf diese Frage ist aus der Sicht der meisten in diesem Band vertretenen Denker, die sich der Schoah gewidmet haben, eine uneingeschränkte Befürwortung einer solchen gemeinsamen Heraushebung von Zionismus, Staatsgründung und Schoah aus dem übrigen philosophischen und theologischen Diskurs. Aber auch für den im Nachhinein prüfenden Historiker des jüdischen Denkens ergibt sich diese Berechtigung, weil aus der Distanz betrachtet beide Ereignisse - so unterschiedlich, ja gegensätzlich sie tatsächlich waren - in einer Weise verbunden sind, die Zionismus und Schoah zusammengenommen als großen dialektischen Umbruch im jüdischen Denken erscheinen lassen, der bis hinein in die Erkenntnislehre reicht. In dieser Beurteilung selbst sind allerdings bereits epistemische Voraussetzungen involviert. Die unterschiedlichen Beurteilungen von Zionismus und Schoah sind in nichts weniger als in grundlegenden Differenzen der Weltsicht und der conditio judaica begründet. All jene Autoren, die noch dem traditionellen rabbinischen Denk-Paradigma verhaftet blieben, haben den Zionismus und die Schoah in ihr überkommenes Geschichtsdenken eingefügt, in dem beide Ereignisse tatsächlich keinerlei Recht beanspruchen können, als Wendepunkt zu einer neuen Ära betrachtet zu werden. Für das traditionelle rabbinisch geprägte Denken war der Zionismus eine zu verwerfende Abweichung von der überkommenen jüdischen Tradition, nach welcher das Volk Israel von seinem Gott ins Exil verstreut wurde, wo es so lange bleiben sollte, bis der von Gott erwählte Messias das Exilsdasein der Juden beendet und sie wieder in die Geschichte, oder besser an deren Ende, hinüberführt. Auch die etwas moderneren rabbinischen Konzeptionen, wie sie in Band drei des Jüdischen Denkens vorgestellt wurden, sahen die Rolle der Juden weiterhin in theologischen und heilsgeschichtlichen Kategorien, wenn sie diesen in der Zerstreuung eine Weltmission zuschrieben, welche zur Herbeiführung eines universalen messianischen Reiches als der Quelle einer umfassenden Weltgerechtigkeit führen würde. Die Schoah hingegen ist für dieses überkommene Denken nur ein weiteres Glied in der langen und schmerzlichen Verfolgungsgeschichte der Juden, demnach auch nichts Neues und kein Umbruch in der Geschichte. Dies betrifft auch die mögliche Suche nach Antworten auf die brennende Frage nach den Ursachen des Leidens, die dann meist in der menschlichen Sünde gesucht werden. Wollte man hingegen in Zionismus, Staatsgründung und Schoah eine grundsätzliche Wende im jüdischen Selbstbewusstsein sehen, erforderte dies neue Denkkategorien aus den unterschiedlichsten...