Beschreibung
Die Idee der Selbstverwirklichung zählt zu den zentralen Werten der westlichen Moderne. Umso überraschender ist es, dass sie bisher nirgends systematisch untersucht worden ist. Im Anschluss an eine eingehende Auseinandersetzung mit Charles Taylors Theorie der Moderne widmet sich Magnus Schlette den begrifflichen Bestimmungen und normativen Implikationen der Selbstverwirklichungsidee. Damit leistet er einen philosophischen Beitrag zur Individualisierungstheorie und zur Theorie der Moderne.
Autorenportrait
Magnus Schlette, Dr. phil., ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Erfurt und Leiter des Arbeitsbereichs "Theologie und Naturwissenschaft" an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) e.V.
Leseprobe
Einleitung Zu den typischen Merkmalen der gegenwärtigen westlichen Kultur gehört zweifellos auch und sogar wesentlich die außerordentliche Bedeutsamkeit, die viele Menschen ihrer Selbstverwirklichung beimessen. Und es dürfte für den offenen Entwicklungshorizont der Moderne bezeichnend sein, dass überaus kontrovers darüber diskutiert wird, worin sie billigerweise bestehen könnte. Vielstimmig ist allerdings auch das Votum derjenigen, die meinen, dass es da ohnehin gar nicht viel zu diskutieren gebe. Es wird allerdings mit Argumenten begründet, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Einerseits kursiert die Meinung, dass es ein Widerspruch sei, ausgerechnet für die Selbstverwirklichung ein allgemeines Rezept finden zu wollen, denn gebe es einen Begriff, der eindeutiger dafür steht, dass jeder nach seiner eigenen Façon leben möge? Von dieser Seite werden Bemühungen, zu verallgemeinerbaren inhaltlichen Bestimmungen von Selbstverwirklichung zu gelangen, als Zumutung empfunden, als fast ebenso zudringlicher Übergriff auf die Privatsphäre wie die unvermittelte Frage an den Nachbarn, welche sexuellen Praktiken er bevorzuge. Nur sind es zumeist Vertreter dieser Meinung, die anderen gerne ihre Selbstverwirklichung ansinnen, und es ist nicht nachvollziehbar, wie sie etwas ansinnen können, dessen Verständnis sie derart privatisiert haben, dass darüber eine allgemeine Verständigung eigentlich nicht mehr möglich ist. Andererseits ist die Auffassung verbreitet, dass sich das Streben nach Selbstverwirklichung in einer Kultur genusssüchtiger und selbstverliebter Alltagsgestaltung erschöpft, die von Indifferenz gegenüber dem Guten infiziert worden ist. Die Vertreter dieses Lagers wittern in dem missverständlichen Beharren auf der Unmöglichkeit, einen allgemein zu stimmungsfähigen Sinn von Selbstverwirklichung zu artikulieren, ein Symptom jener Schrankenlosigkeit des modernen Individualismus, den sie unter den Stichwörtern Hedonismus, Konsumismus oder Narzissmus kritisieren. Ihre Kontrahenten aus dem Lager derjenigen, die Selbstverwirklichung als Privatangelegenheit verteidigen, vermögen sich der Plausibilität dieser Gegenwartsdiagnose wiederum nicht völlig zu entziehen und reagieren mit kalkulierter Entdramatisierung des von den Kritikern entworfenen Szenarios einer aus den Fugen geratenden Moderne. Niemand gibt schließlich freiwillig Punkte an den Gegner ab. Die grundlegende These dieser Arbeit lautet, dass der Anspruch der Selbstverwirklichung mittlerweile eine zentrale Position im Wertesystem der modernen westlichen Gesellschaften eingenommen hat; die skizzierte Gemengelage unterschiedlicher Meinungen ist folglich mitnichten ein Indiz für die bloße Inszenierung eines scheinaktuellen Themas in den entsprechenden Journalen und Foren, das gleich jeder Modeerscheinung ebenso schnell wieder verschwindet, wie es aufgekommen ist, sondern bezeugt auf eine etwas nervöse Art und Weise die Virulenz dieser Idee. Fraglich, so meine These, ist nicht mehr, ob Selbstverwirklichung ein hohes Gut ist, sondern allenfalls, was genau wir uns darunter vorzustellen haben. Denn auch die schärfsten Kritiker der Idee gelangen zu ihrer Position nur dadurch, dass sie sich gegen ganz bestimmte Vorstellungen davon wenden, was es heißen könnte, sich selbst zu verwirklichen, und dann allenfalls diese Vorstellungen nonchalant für das Ganze nehmen. So wird oftmals die Bedeutung der Idee auf partielle, zeitgeschichtlich und milieuspezifisch bedingte Verwendungskontexte des Wortes reduziert, das für diese Idee steht. Doch wenn auch das Wort, sogar ein ganzer Jargon der Selbstverwirklichung, wie er sich vor allem seit den sechziger Jahren ausgebildet hat, aufs Korn genommen wird - die dahinterstehende Idee ist in der Gegenwartskultur so vital wie nie zuvor. Auch die Kritik legt zumeist Maßstäbe an - etwa den der Gerechtigkeit sozialer Verhältnisse oder der gelungenen sozialen Vergemeinschaftung oder auch den der lebensgeschichtlichen Verbundenheit mit tradierten kulturellen Quellen individueller Wert- und Handlungsorientierung -, von denen aus einer anderen Perspektive ebenso gut behauptet werden könnte, dass sie solche der recht verstandenen Selbstverwirklichung sind. Darum ist allenfalls das besagte Wort durch einen vermeinten Missbrauch diskreditiert, nicht aber die Idee. Und die mittlerweile hausbackene Anmutung eines veralteten Jargons täuscht über das Leben der Idee hinweg. Ihre Vitalität beschränkt sich indessen nicht auf argumentative Bemühungen um den Sinn von Selbstverwirklichung, zumal nicht auf solche der Begriffsgeschichte und systematischen Begriffsbildung, die dazu im Übrigen dürftig ausfällt. Hegel, der das Kompositum erstmals verwendet hat und auf den die philosophische Begriffsgeschichte von Selbstverwirklichung direkt oder indirekt bezogen bleibt, qualifiziert damit Kants Begriff des freien Willens, dessen Wesen in seiner praktischen Durchsetzung "als Selbstverwirklichung" bestehe. In der Nachfolge von Hegels KantDeutung greift der englische Hegelianer Francis Herbert Bradley das Kompositum auf, um damit die Verwirklichung des wahren Selbst durch die moralische Handlung zu bezeichnen; Bradleys Ethik ist ein Vermittlungsversuch zwischen Kants Moralitäts und Hegels Sittlichkeitskonzept. Wiederum im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit dem englischen Hegelianismus, aber auch unter dem Einfluss der Transzendentalisten, gebraucht John Dewey den Begriff in seinem Frühwerk zur praktischen Philosophie. Hegels Grundgedanke, dass es die Bestimmung des seiner selbst bewussten Geistes sei, sich vermittels einer Verschränkung individueller Sozialisationsprozesse mit den geschichtlichen Kulturationsmedien zu verwirklichen, motivierte schließlich Richard Kroner in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts dazu, seine an Hegels System orientierte Kulturphilosophie unter dem Titel Die Selbstverwirklichung des Geistes zu veröffentlichen; damit gewann das Kompositum bei Kroner allerdings eine Bedeutung, die es bei Hegel noch nicht gehabt hatte. Auch die Verwendung des Begriffs in der marxistischen Tradition ist einer kritischen Auseinandersetzung mit Hegel geschuldet. So bezeichnet Marx die Entwicklung des menschlichen Wesens unter den Bedingungen nichtentfremdeter Arbeit gelegentlich als Selbstverwirklichung. Der Gegenbegriff ist hier die Selbstentfremdung des Menschen - "sowohl in der Gestalt der Selbstentfremdung als der wechselseitigen Entfremdung" - durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, so dass "die Verwirklichung seines Wesens als Entwirklichung seines Lebens" erscheint, wie Marx es in den Exzerptheften formuliert. Von der MarxRezeption Erich Fromms lässt sich wiederum eine Brücke zur Rolle des Kompositums Selbstverwirklichung in der Humanistischen Psychologie schlagen, zu deren prominentesten Vertretern neben Fromm selbst vor allem Abraham Maslow, Carl Rogers und Karen Horney zählen. Gemeinsam ist ihnen - bei allen Binnendifferenzen die Auszeichnung der Selbstverwirklichung bzw. der Selbstaktualisierung als höchsten Wert der Persönlichkeitsbildung. Darunter haben wir uns die nötigenfalls therapeutisch zu ermutigende Entdeckung und ganzheitliche Kultivierung individueller Bedürfnisse und Fähigkeiten vorzustellen, deren Hierarchisierung Maslow grafisch durch eine Pyramide darstellt. An ihrer Spitze steht die Selbstverwirklichung, und damit ist die selbstzweckhafte Vollzugsorientierung des besagten Bildungsprozesses gemeint.