Beschreibung
In der europäischen Erinnerung gilt die Zeit zwischen den Weltkriegen als Phase der Deglobalisierung. Doch außerhalb Europas kam es zu wichtigen welthistorischen Weichenstellungen. Diese schildern die Autorinnen und Autoren des Bandes anhand zahlreicher Beispiele: Sie beschreiben die wachsende Bedeutung asiatischer Märkte, den Beginn der Dekolonisierung in Asien und Afrika und die Entstehung der »Entwicklungshilfe«. So ergibt sich ein neues Bild der 1920er- und 1930er-Jahre als Phase der Neuformierung des Globalen, die für die weitere Geschichte des 20. Jahrhunderts prägend war.
Autorenportrait
Sönke Kunkel, Dr. phil., promovierte 2011 zur Geschichte der USA an der Jacobs University, Bremen. Christoph Meyer ist dort Doktorand und forscht zur Entwicklungspolitik des Völkerbundes.
Leseprobe
Mythos Deglobalisierung, oder: Wie global war die Zwischenkriegszeit? In der Geschichte der Globalisierung nimmt die Zwischenkriegszeit oft eine merkwürdige Sonderstellung ein. Historiker beschreiben sie als Phase der Deglobalisierung - ein Begriff, der häufig fälschlicherweise dem Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt zugeschrieben wird - oder sehen, wie der in Princeton lehrende Harold James, in der Weltwirtschaftskrise gar das 'Ende der Globalisierung'. Beide Deutungsfiguren betonen den Bruch: Demnach dominierten in den 1920er Jahren und spätestens ab 1929 nicht mehr Prozesse der grenzüberschreitenden Vernetzung und Verflechtung, und auch keine globalen Handlungsrahmen, sondern solche der Entflechtung und der Rückkehr zu nationalen und lokalen Arenen, was sich etwa auch daran zeigte, dass der Welthandel nicht mehr das Niveau der Jahre vor 1914 erreichte und sich ein exzessiver Nationalismus breit machte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg sei es wieder zu einer fortschreitenden Globalisierung gekommen, die dann allerdings mehr mit dem späten 19. Jahrhundert gemeinsam gehabt habe als mit der Zwischenkriegszeit. Diese Interpretation ist mindestens in zweifacher Hinsicht problematisch. Zum einen lässt sie die Tatsache unberücksichtigt, dass trotz der Weltwirtschaftskrise globale Austauschprozesse weiterhin im bilateralen Rahmen stattfanden. In manchen Fällen kam es dabei sogar zu wichtigen Verschiebungen, wie das Beispiel Brasilien zeigt. Kamen 1929 nur etwa 17,8 Prozent der importierten Fertigprodukte aus Deutschland, waren es 1936 mehr als doppelt so viele, nämlich 36,9 Prozent. Innerhalb von sieben Jahren hatten sich die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Brasilien also zumindest in diesem Segment erheblich intensiviert - und das trotz der Weltwirtschaftskrise. Ähnliche Tendenzen lassen sich auch für andere Länder und Märkte nachweisen und legen es somit nahe, die Geschichte der Globalisierung differenzierter zu betrachten (vgl. dazu besonders den Beitrag von Christof Dejung in diesem Band). Zum anderen geht die Deutungsfigur der Deglobalisierung von einem verengten Globalisierungsbegriff aus, der Globalisierung mit der beständigen Ausweitung des gesamten Welthandels gleichsetzt. Tatsächlich spricht jedoch einiges dafür, dass sich Globalisierungsprozesse in der Zwischenkriegszeit häufig jenseits der Handelsstatistiken vollzogen. Gerade die Geschichte der Werbung liefert dafür gute Beispiele. In den 1920er und 1930er Jahren entstanden erstmals weltweit operierende PR-Agenturen, Vorreiter war die US-amerikanische PR-Agentur J. Walter Thompson (JWT). Die JWT gründete in den 1920er und 1930er Jahren etliche lokale Niederlassungen in Lateinamerika, Asien, Afrika, Australien und Europa. Anlass dazu war ein 1927 mit der General Motors Export Corporation geschlossener Vermarktungsvertrag gewesen. Bereits 1929 verfügte die Company über 15 Niederlassungen weltweit, unter anderem in Bombay und Buenos Aires. Im Auftrag verschiedener Unternehmen führte sie Konsumentenbefragungen durch - unter anderem zu Zigaretten, Zahnpasta, Marmelade, Backpulver, Reifen, Kameras, Kühlschränken oder dem Bankenservice - und pries jene Produkte und Dienstleistungen dann mittels einer avancierten Werbe- und Öffentlichkeitsarbeit an, die Autoshows, eigene Radiosendungen oder Preisausschreiben umfassen konnte. Ihr globales Knowhow führte die JWT dabei schon früh als Alleinstellungsmerkmal ins Feld und sorgte so für die Verbreitung amerikanischer Werbetechniken. Nicht zufällig wurde der Leiter der indischen J. Walter Thompson-Dependance, Edward Fielden, der 'Vater der indischen Werbung' genannt. Die globale Expansion der JWT und ihr Transfer von spezifischen Werbetechniken taucht vermutlich in keiner weltwirtschaftlichen Statistik auf, verweist aber darauf, dass sich vielschichtige Globalisierungsprozesse in der Zwischenkriegszeit auch weiterhin Bahn brachen. Das galt vor allem für die kulturelle Globalisierung, für welche die erste Radiosendung Lateinamerikas ein Musterbeispiel war: 1920 in Buenos Aires gesendet, übertrug sie nicht etwa eine der damals schon außerordentlich beliebten Tango-Shows, sondern Richard Wagners Parsifal live aus dem Teatro Colón. Die Sendung unterstrich damit auch den allgemeinen Stellenwert kosmopolitischer Unterhaltung in der Zwischenkriegszeit. Ähnliches ließ sich beim Kino beobachten, dem beliebtesten Unterhaltungsmedium der 1920er und 1930er Jahre. Besonders in Lateinamerika, wo die Kinodichte teilweise ebenso hoch war wie in den USA, aber auch in Europa dominierten seit dem Ende des Ersten Weltkriegs Hollywood-Filme die Leinwände und ihre Stars die Zeitschriften. Auch italienische und deutsche Filme waren in der Welt gefragt. Spuren dieser globalen Filmzirkulation fanden sich noch 2009, als man im Museo del Cine in Buenos Aires eine nahezu ungekürzte Fassung von Fritz Langs Film Metropolis entdeckte.
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