Beschreibung
In Band 3 zeigt Karl Erich Grözinger, wie sich das italienische Judentum bereits ab dem 16. Jahrhundert, gut 200 Jahre vor der Aufklärung im mitteleuropäischen Judentum, den modernen Wissenschaften und Künsten öffnete und damit das jüdische Denken in Europa grundlegend veränderte. Verstärkt wurde die daraus resultierende religiöse Unsicherheit noch durch den Zuzug der von der iberischen Halbinsel stammenden sephardischen sowie zwangsgetauften Juden. All dies führte zu einer Religions- und Traditionskritik, die in Spinoza ihren letzten Höhepunkt fand. Parallel entstand, besonders in Osteuropa, eine »orthodoxe« und zugleich innovative Restrukturierung der rabbinischen Tradition. Die Berliner Aufklärung um Moses Mendelssohn trug die vom Mittelmeerraum ausgegangenen Debatten ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in das deutsche Judentum. Hieraus entstand die in der gesamten Neuzeit virulente Auseinandersetzung um Gesetz oder Glaube als dem Zentrum des Judentums, die in die bis heute andauernde Trennung in Reformund Orthodoxie mündete.
Autorenportrait
Karl Erich Grözinger ist Professor emeritus für Religionswissenschaft und Jüdische Studien an der Universität Potsdam und war Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Er ist Vorsitzender der Ephraim Veitel Stiftung, der ältesten und von ihm seit 2007 wiederbelebten jüdischen Stiftung in Deutschland.
Leseprobe
Die Zeit, in der man das jüdische Mittelalter mit Moses Mendelssohn oder der Haskala, also der jüdischen Aufklärung, zu Ende gekommen sah, ist endgültig vorüber, dafür ist dieser Band ein eindrückliches Zeugnis. Das europäische Judentum ist nicht nur Judentum in Europa, sondern seinem Wesen und seiner Kultur nach europäisches Judentum. Das hatte zwar schon das in Band eins und zwei Dargestellte gezeigt, aber die innerjüdischen Veränderungen in der Neuzeit bele-gen mit unwiderlegbarem Nachdruck, wie eng verzahnt das europäische Judentum, trotz aller Ausgrenzungen, Vertreibungen und Pogrome, mit der allgemeinen kulturellen Entwicklung in Europa war. Auch wenn die Schrittmacher zuweilen nur Einzelne waren, und sie waren es nicht immer, so war das doch auch im christlichen Europa kaum anders. Das neue Denken in Philosophie, Wissenschaft und anderen Kulturbereichen hielt stets mit der allgemeinen Entwicklung Schritt, so dass sich auch für das europäische Judentum eine klar abgegrenzte Kultur der Neuzeit erkennen lässt, in deren Rahmen die jüdische Aufklärung letztlich nur ein weiterer Schritt war und nicht ein Umbruch von einem angeblich verlängerten Mittelalter. Dem Ende dieser Neuzeit kann indessen eine gewisse Phasenverzögerung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zugebilligt werden, weshalb dieser Band mit dem philosophischen Höhepunkt des deutsch-jüdischen Denkens abschließt, mit dem Marburger und Berliner Neu-Kantianer Hermann Cohen, der im April 1918 gegen Ende des Ersten Weltkrieges gestorben war. Mit den dem Krieg folgenden Umbrüchen, der Weimarer Zeit, dem erstarkenden Antisemitismus, der drohenden Katastrophe und den verstärkten zionistischen Bestrebungen, bricht auch kulturell und philosophisch eine andere Zeit in der Geschichte des jüdischen Denkens an. Mit dem Tod Cohens wurden die mit der Aufklärung gewachsenen optimistischen Aussichten des neuzeitlichen europäischen Judentums zu Grabe getragen.Das deutliche Profil der jüdischen Neuzeit und die große Fülle an denkerischen Leistungen, von denen hier nur ein bedauerlich schmaler Ausschnitt gezeigt werden kann, hatten zur Folge, dass Autor und Verlag entschieden, dem ur-sprünglich auf drei Bände ausgelegten Werk einen vierten für die Moderne bis zur Gegenwart folgen zu lassen. Viele bekannte und wichtige Namen, die teilweise wenigstens in der Einfüh-rung oder in den Fußnoten genannt werden konnten, wird man in der hier gebotenen ausführlicheren Darstellung vermissen. Aber das Ziel war, wie in den vorangegangenen Bänden, in einem vertretbaren Umfang ein gewisses repräsentatives Bild zu zeichnen, Grundlinien aufzuzeigen und angesichts der Vielfalt der unterschiedlichen Richtungen und Strömungen eine erste Orientierungshilfe zu bieten und dabei die voranschreitenden und die bewahrenden Kräfte gleichermaßen zu Wort kommen zu lassen. Dies war umso mehr berechtigt, als auch das konservative Bewahren, die "orthodoxe" Einstellung, nicht einfach eine Weitergabe des Überkommenen bedeutete. Auch das Weitergeben und Hüten der alten Werte konnte doch immer nur durch gewissen Neudeutungen gelingen, weshalb diese Richtung hier als "Restaurativ-integrative Orthodoxie" benannt wurde, weil sie, wie dann auch die Neoorthodoxie des 19. Jahrhunderts, doch etwas Neues im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen war.Das Überraschende wird für manchen Leser sein, dass Baruch Spinoza, den viele wegen seiner Haltung und seinen Lehren aus dem Kanon des jüdischen Denkens ausgeschlossen sehen wollen, nicht als ein einzelner unbegreiflicher Abtrünniger dasteht, sondern als gipfelnder Abschluss einer Linie, die sich im europäischen Judentum als relativ breiter Strom bis ins 16. Jahrhundert hinab verfolgen lässt. Spinoza ist damit, philosophiegeschichtlich gesprochen, ein inte-grales Glied des jüdischen Denkens. Er steht am Ende des zweiten Teiles, der die Überschrift "Traditions- und Religionskritik" trägt. Dieser Phase der Traditions- und Religionskritik ging eine andere des "Ringens um die widersprüchliche Vielfalt von Wahrheiten" voran. In dieser ersten kritischen Phase wurden nicht nur die aristotelischen Lehren des Mittelalters hinterfragt, sondern auch die sich gegenüberstehenden Wahrheiten von rabbinischer Tradition, Kabbala und Philosophie. Hinzu kamen die neuen Wahrheiten der empirischen Wissenschaften, der Astronomie, der Physik, der Medizin und schließlich auch der Geschichts-Wissenschaft, die teilweise als doppelte Wahrheiten oder in enzyklopädischer Pluralität rezipiert wurden.Die in der Forschung bisher zuweilen als Ende des Mittelalters dargestellte Haskala (Aufklärung) markiert vor diesem Hintergrund letztlich nur eine weitere Etappe, die zum Teil von analogen Personengruppen, wie zum Beispiel von Ärzten, getragen wurde. Die Aufklärung selbst ist darum auch keine einlinige Bewe-gung, sondern verläuft in mehreren parallelen Strängen, die hier als unterschiedliche Ansätze dargestellt wurden, als naturwissenschaftlich-empiristischer Ansatz, als religionspolitischer, als religionswissenschaftlicher und als historischer Ansatz. Das folgende 19. Jahrhundert erscheint demgegenüber als eine Phase der versuchten Konsolidierung, hier als "Neuorientierung nach der Aufklärung" überschrieben. Jetzt wurden neuerliche Gesamtentwürfe der Deutung des Judentums vorgelegt, die zugleich die durch die Aufklärung vorbereitete "Konfessionalisierung" des Judentums verfestigten. Diese vielfältigen Neuentwürfe von Judentum des 19. Jahrhunderts bedienten sich auf breiter Front der in Deutschland und darüber hinaus angebotenen philosophischen Deutungsparadigmen, deren Herkunft durch die Kapitelüberschriften leicht zu erahnen ist: Judentum der Tora (Neoorthodoxie), und die dem Reformlager zuzurechnenden Entwürfe eines Ju-dentums als Religion des Geistes, Judentum des Gefühls, des Bewusstseins und der theologischen Wissenschaft und schließlich Judentum als Religion der Vernunft.Natürlich hat in der jüdischen Neuzeit die esoterische Theologie, das heißt die Kabbala, und mit ihr verbundene Formen der Mystik gleichfalls eine wesentliche Rolle gespielt. Darauf wurde in der hier folgenden Einführung hingewie-sen, ihre ausführliche Darstellung findet sich jedoch schon im Band zwei des "Jüdischen Denkens". Dort setzt die Neuzeit mit der für diese nicht unspezifischen lurianischen Kabbala ein. Hierher gehören die für die Magiegläubige Renaissance und Neuzeit typischen Ba'ale Schemot, die in der Einleitung zum Stifter der hasidischen Bewegung, Jisrael Ba'al Schem Tov vorgestellt wurden und schließlich der Hasidismus selbst. Eine eigenwillige Tora-Mystik trug auch der hier im dritten Band zur restaurativ-integrativen Orthodoxie dargestellte Hajjim aus Woloschyn vor.Ich hoffe, mit dieser Auswahl an Denkern einen für diese Zeit repräsentativen Rahmen gesteckt zu haben, der künftigen Arbeiten zu weiteren Autoren als Anhalt dienen mag. Die lange versprochene Bibliographie muss nun allerdings bis zum vierten Band warten und ich bitte die Leser um Nachsicht, wird sie die hier eingebrachte Ernte doch gewiss dafür entlohnen.
Inhalt
INHALTVORWORT17EINFÜHRUNG - GESCHICHTE UND KULTUR DES NEUZEITLICHEN JUDENTUMS211. Jüdische Neuzeit zwischen Mittelalter und Aufklärung 212. Aufklärung und Emanzipation (1750-1900) 223. Die demographische und politische Situation zu Beginn der Neuzeit 234. Die kulturelle und mentale Situation des neuzeitlichen Judentums 264.1 Historiographische Bewertungskriterien 264.2 Sefardim, Aschkenasim, "Marranos" und andere284.3 Universitäten, Wissenschaften, Rabbiner und jüdische Ärzte304.4 Die neuen Wissenschaften im aschkenasischen Raum 324.5 Wissenschaft, Philosophie und Theologie324.6 Historiographie, Autobiographie und Kunst354.7 Traditions- und Religionskritik374.8 Die Rolle der Kabbala384.9 Erziehung, Bildung und Sprachen414.10 Musik, Literatur und Theater424.11 Messianische Bestrebungen und Bewegungen444.12 Die Kodifizierung des jüdischen Rechts45DAS RINGEN UM DIE VIELFALT WIDERSPRÜCHLICHER WAHRHEITEN IM ITALIEN DER FRÜHEN NEUZEIT47I. ERSTE ANZEICHEN DER VERÄNDERUNG - VORBEMERKUNG47II. 'ASARJA (BUONAIUTO) DEI ROSSI (CA. 1511 - CA. 1578) UND SEIN ME'OR 'ENAJJIM491. Leben und Werk492. Historiographische Essays aus jüdischen und nichtjüdischen Quellen503. Prisca theologia und historische Wahrheit514. Ideengeschichte55III. DIE ENZYKLOPÄDISTEN59A. Anlässe und Ziele der Stoffsammlungen59B. Josef Schlomo Delmedigo (1591-1655) und 'Elija Delmedigo (1460-1497)621. Vorbemerkung622. 'Elija Delmedigo - Leben und Werk623. Josef Schlomo Delmedigo - Leben und Werk654. Die Schriften Josef Schlomo Delmedigos665. Arten des Wissens - die Lehren von der doppelten und dreifachen "Wahrheit"685.1 Josef Delmedigos Konzeption685.2 'Elija Delmedigos Konzeption726. Josef Delmedigo und die Kabbala767. Das Ende des mittelalterlichen Aristotelismus - Josef Delmedigos Kritik und Neusetzung797.1 Materie, Form und Seele797.2 Die Separaten Intellekte der Aristoteliker83C. Tuvja Ha-Kohen (1652-1729)851. Ma'ase Tuvja - eine medizinisch-philosophische Enzyklopädie852. Zielsetzung des Buches - Bildung der Juden88TRADITIONS- UND RELIGIONSKRITIK93I. LEONE MODENA DI VENEZIA (1571-1648) - ZWISCHEN RABBINISCHER TRADITION, KUNST,PHILOSOPHIE, KABBALA UND CHRISTENTUM931. Biographische Notiz932. Kol Sachal - Stimme eines Toren932.1 Autorschaft und Geschichte des Buches932.2 Der Charakter der Schrift Kol Sachal962.3 Die philosophische Theologie des Kol Sachal973. Die Offenbarung und die Bedeutung der Tora1084. Das Naturrecht1115. Die Schriftliche und die Mündliche Tora1145.1 Die neue Hermeneutik1145.2 Das Fehlen einer ununterbrochenen Traditionskette1175.3 Die beschränkte Autorität des Obergerichtshofes in Jerusalem1196. Der neue Schulchan 'Aruch1227. Vernunft und Offenbarung, ihr Ort im jüdischen Leben1247.1 Der biographische Befund1247.2 Die Offenbarung1277.3 Die Vernunft1308. Die Geschichte als hermeneutische Kategorie 133II. URIEL DA COSTA (ACOSTA) (1583/4-1640)1361. Das Exemplarische des Falles Uriel da Costa1362. Biographisches - Rückkehr zum Judentum und Konflikt1383. Da Costas marranische Religion1424. Die Thesen wider die rabbinische Tradition1445. Das Naturrecht1506. Der Traktat wider die Unsterblichkeit der Seele1527. Biblische Literaturkritik156III. BENTO BARUCH BENEDICTUS DE SPINOZA (1632-1677)1581. Biographisches1582. Spinoza - ein Vertreter des jüdischen Denkens?1593. Vernunft und Offenbarung1624. Die Traditions- und Religionskritik Spinozas1644.1 Die Prophetie1664.2 Das Zeugnis der Schrift1704.3 Die Prophetie nach dem Zeugnis der Schrift1714.4 Die Propheten nach dem Zeugnis der Schrift1744.5 Das neue Auslegungsparadigma und die neue hermeneutische Technik Spinozas 1774.6 Biblisch-jüdische Theologoumena im Lichte des spinozanischen Verstehensparadigmas1845. Die Philosophie Spinozas1925.1 Grundlinien1925.2 Die Lehre von der Erkenntnis1965.
Schlagzeile
Das Standardwerk zum jüdischen Denken " Band 3>
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