Beschreibung
Wie hat man - vom späten 18. bis zum frühen 20.Jahrhundert -über den Antisemitismus nachgedacht? Diese Anthologie dokumentiert signifikante, oft vergessene Quellentexte, die sich mit dem Phänomen des Judenhasses auseinandersetzen und es theoretischzu erklären versuchen. Sie zeigt die Erkenntnisarbeit, die in den zumeist von jüdischen Autoren verfassten Texten steckt und macht die Anstrengung deutlich, die darin liegt, dass diese Reflektionen in den nichtjüdischen Zeitgenossen oft kein intellektuelles Gegenüber fanden. Jeder der abgedruckten Quellentexte wird von einem kommentierenden Artikel begleitet.
Autorenportrait
Birgit Erdle ist Walter Benjamin Visiting Professor an der Hebrew University in Jerusalem. Apl. Prof. Dr. Werner Konitzer ist stellvertretender Direktor des Fritz Bauer Instituts.
Leseprobe
Einleitung
"Ich kann es nicht; versuche ich es, gleich sinkt mir die Hand", notiert Franz Kafka im Juni des Jahres 1922 in einem Brief an Robert Klopstock. Die gestische Beschreibung Kafkas zeugt vom Scheitern mehrerer Anläufe, eine Besprechung zu einem Buch zu verfassen, das kurz zuvor im Druck erschienen war: Secessio Judaica. Philosophische Grundlegung der historischen Situation des Judentums und der antisemitischen Bewegung von Hans Blüher. Ende Juli kommt Kafka auf Blühers Buch zurück, in der Passage eines Briefs an Max Brod, in der er den ebenfalls 1922 veröffentlichten Band Deutsche Dichtung in neuer Zeit von Friedrich von der Leyen kommentiert:
"Zu der Literaturgeschichte: [] sie scheint eine Begleitmusik zur Secessio Judaica und es ist erstaunlich, wie innerhalb einer Minute einem allerdings sehr günstig voreingenommenen Leser mit Hilfe des Buches die Dinge schön sich ordnen, etwa die Menge halb bekannter, gewiß ehrlicher, dichterischer Männer, die in einem Kapitel Unser Land auftauchen, nach Landschaften geordnet, deutsches Gut, jedem jüdischen Zugriff unzugänglich, und wenn Wassermann Tag für Tag um 4 Uhr morgens aufsteht und sein Leben lang die Nürnberger Gegend von einem Ende zum andern durchpflügt, sie wird ihm nicht antworten, schöne Zuflüsterungen aus der Luft wird er für ihre Antwort nehmen müssen."
Versucht Kafka dem Antisemitismus im Feld der Literaturgeschichte ironisch zu begegnen, mit einer subtilen Deutung der Zuschreibungen "deutsch" und "jüdisch", so muss eine solche Umgangsweise in Bezug auf Blühers Secessio Judaica als sinnlos erscheinen. Das hält Kafka in einer abgebrochenen Tagebuchnotiz vom Juni 1922 fest: "[M]erkwürdig leicht, bei jeder Bemerkung fast", komme man "in den Verdacht [], man wolle die Gedanken dieses Buches ironisch abtun", selbst dann, "wenn man wie ich angesichts dieses Buches von nichts weiter entfernt ist als von Ironie." Wie kann man ein Antisemit sein, ohne ein Judenfeind zu sein? Blüher, so schreibt Kafka, "nennt sich einen Antisemiten ohne Haß, sine ira et studio, und er ist es wirklich, aber er erweckt sehr leicht, fast bei jeder Bemerkung, den Verdacht, daß er ein Judenfeind ist, sei es in glücklichem Haß, sei es in unglücklicher Liebe."
Diese neue (deutsche) Form eines philosophischen Antisemitismus, der die erwähnte Literaturgeschichte, wie Kafka vermutet, die "Begleitmusik" liefert, ist gegenüber einem ethnisch argumentierenden Nationalismus, wie er Kafka in Prag begegnete, etwas grundsätzlich Anderes. Franz Kafka nennt Hans Blühers Buch einen "Anruf", der nicht der "Widerlegung" bedarf, sondern eine "Antwort" erfordert - eine Erwiderung, die nicht als ein "in jedem Fall entscheidende[r] Wettkampf" zu denken wäre, etwa als "Kampf zwischen Goliath und David", sondern als "seitliche[n] Beobachtung des Goliath", "beiläufige[n] Feststellung der Kräfteverhältnisse", "Revidierung der eigenen Bestände". Oskar Baum übernimmt es schließlich, eine öffentliche Antwort zu geben, in einem Vortrag und in seinem Artikel "Die jüdische Gefahr", der 1923 in der von Martin Buber herausgegebenen Monatsschrift Der Jude veröffentlicht wurde und in der hier vorgelegten Quellenedition wiederabgedruckt ist.
Die von Kafka bezeugte Müdigkeit mag auch der Erkenntnis geschuldet sein, dass "Widerlegung", also eine Argumentation, die die Tatsachen richtigstellt, angesichts dieser Form der Judenfeindschaft ins Leere greift. Zu einer Antwort genötigt - in einer Situation der Bedrohung, oft auch einer der Isolation, und fast immer gegen die Zeitströmung herrschenden Denkens gerichtet - sahen sich nahezu alle in diesem Band versammelten Autoren, und nur selten teilten die nichtjüdischen deutschen Intellektuellen die Last solcher Nötigung. Die vorliegende Edition will die Erkenntnisarbeit, die in den zumeist von jüdischen Autoren verfassten Texten steckt, zeigen und analysieren, und sie will zugleich die Anstrengung deutlich machen, die darin liegt, dass diese Erkenntnisarbeit in den nichtjüdischen Zeitgenossen oft kein intellektuelles Gegenüber fand. Dokumentiert werden deutschsprachige Quellentexte, die das Phänomen des Judenhasses theoretisch zu bewältigen versuchen, wobei sich diskursive Formen wie Widerlegung, Handreichung, wissenschaftlicher Erklärungsansatz bisweilen mischen und so für den heutigen Leser das Erkenntnisinteresse der Texte manchmal eher verdecken. Doch wird in Umrissen eine Geschichte des Antisemitismus als Forschungsgegenstand in dem gewählten Zeitraum zwischen 1781 und 1931 erkennbar.
Den Anfangspunkt bildet Christian Wilhelm Dohms Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781/1783). Dohm schreibt einen judenfeindlichen Affekt als moralischen Befund fest: "die sittliche Verderbtheit, in welche diese unglückliche Nation [] versunken ist". Indem er diesen Befund auf "fehlerhafte Politick" zurückführt, etabliert er eine Logik, die, wie Stephan Braese in seinem Kommentar zeigt, moralische und rechtlich-politische Verbesserung aneinanderbindet und dabei primär utilitaristisch argumentiert. Judenhass als Thema erscheint in Dohms Schrift zurückgezogen in die Frage, ob es sich bei der Annahme, die Juden seien "durch ihre unabänderliche Natur dazu bestimmt [], immer und ewig dem übrigen menschlichen Geschlecht Schaden und sich selbst sittliches und politisches Elend zu bereiten", um einen richtigen Grundsatz handle oder nicht. Dohm bestreitet dies: "Ich gestehe, daß ich mir von einer durchaus unverbesserlichen Menschen-Race [] keinen Begriff machen kann". Auf der Rückseite dieser Argumentation, das wird vor allem in der öffentlichen Debatte um Dohms Schrift sichtbar, bilden sich indes Formulierungen heraus, die nicht nur mit antijüdischen Vorstellungen arbeitende Exklusionsdiskurse erproben, sondern vielmehr die "Idee der Vertilgung" der Juden (Stephan Braese) in die wissenschaftliche Sprache einbeziehen.
Erschreckt und sehr genau nimmt Saul Ascher wahr, wie der Judenhass, etwa bei Johann Gottlieb Fichte, dem sich auf die Kant'sche Aufklärung berufenden Vernunftdenken integriert und damit selbst als vernunftgemäß und rechtmäßig präsentiert wird. "Wenn die Boßheit", so schreibt Ascher 1794, "in ein vernunftmäßiges System dargestellt wird, dann kann man bequem mit seinem Herzen den Unschuldigen spielen." Man kann sich moralisch gut fühlen, mit der Referenz auf Vernunft - wo es doch gerade "Ihr Herz" und "nicht Ihre Logik" ist, so Ascher an Fichte, welches ihn zu seiner Feindschaft gegenüber den Juden treibt. Schon Ascher formuliert hier also die Notwendigkeit, dass in diesem Punkt die Aufklärung sich über sich selbst aufklären müsse. Er fordert deshalb eine "Kritik des Judenhasses", die für ihn dem Feld der Erkenntniskritik zugehört: Erkenntniskritik schließt in seinen Augen eine Kritik des Judenhasses ein, "eben so gut wie eine - Kritik aller Offenbarung".
Ascher erkennt, dass der Judenhass im Herzen der "kritischen Philosophie" steckt. Er antwortet darauf, indem er den Begriff einer "Wissenschaft des Judenhasses" entwickelt, der zugleich in zwei Richtungen weist: Es ist ein Wissen über den Judenhass nötig, das dessen Verortung in Philosophie und Epistemologie reflektiert. Und es ist notwendig zu erkennen, dass sich, so Ascher, "vor unsere[n] Augen, eine ganz neue Gattung von Gegnern, die mit furchtbarern Waffen als ihre Vorgänger versehen", entwickelt - eine "neue Epoche des Judenhasses", nämlich ein "Judenhass im Kleide der Wissenschaft" (Bettina Stangneth). Dies koinzidiert mit einer Verschiebung von der politischen und religiösen zur moralischen Gegnerschaft, wie Ascher sensibel registriert, und bildet - entgegen dem Paradigma zivilisatorischen Fortschritts - Kurzschlüsse mit scheinbar überwundenen judenfeindlichen Vorstellungsbildern aus der Zeit vor der Aufklärung (Johann Andreas Eisenmengers Entdecktem Judenthum von 1700). Die Rohheit im Herzen aufgeklärten Zivilisiertseins, die sich für Ascher in der Haltung deutscher Intellektueller gegenüber den Juden und dem Judentum beobachten lässt, zeigt sich besonders deutlich in den identitätsphilosophischen Debatten, etwa bei Fichte und Schelling, in denen die "Idee der Deutschheit", verquickt mit dem Christentum, in Anschlag gebracht wird. Wenn Ascher nun benennt, wie die identitätsphilosophischen Diskurse, geleitet von der "aufgeregten Idee der Deutschheit", Judenhass produzieren, kommt eine leidenschaftstheoretische Komponente in seinem Nachdenken über Judenhass hinzu: "Man muß die Menge, um auch sie für eine Ansicht oder Lehre einzunehmen, zu begeistern suchen; um das Feuer der Begeisterung zu erhalten, muß Brennstoff gesammelt werden, und in dem Häuflein Juden wollten unsere Germanomanen das erste Bündel Reiser zur Verbreitung der Flamme des Fanatismus hinlegen." An Aschers Sprache zeichnet sich ab, wie er Philosophie und Pogrom zusammendenkt. Das Pogromgedächtnis, das sich in seiner Schrift Die Germanomanie aus dem Jahr 1815 artikuliert, weist zugleich auf die nahe Zukunft voraus, auf die Monate andauernde Welle der Gewalt gegen Juden im Jahr 1819, die unter dem Namen "Hep-Hep-Unruhen" überliefert ist. Die Schärfe, mit der Ascher die Systematik wahrnimmt, die die Phänomene solcher Gewaltausbrüche mit philosophischen und wissenschaftlichen Denkformen verbindet - aber auch mit Begriffen wie "deutsches Bürgerrecht", in dem die Idee des Bürgerrechts mit der der "Deutschheit" verschmolzen ist -, lässt ihn die Notwendigkeit einer systematischen und interdisziplinären Erforschung des Judenhasses erkennen.
Auch David Friedländer reflektiert den Zusammenhang von Judenhass und Moral nicht als ein Koexistieren intellektueller Haltungen, sondern als Einheit: Hass und Verachtung gegen die Juden sind moralisch, sie sind Teil einer Moral, die das Menschenwohl im Auge zu haben meint. Gegenüber der "Unsittlichkeit" der Juden kann so ein Mörder als sittlich dargestellt werden. Friedländer hofft noch immer auf Evidenzerzeugung durch die "Facta", durch die Macht der Tatsachen, durch Geschichtswahrheiten, die die Vernunftwahrheiten bestätigen, und hält in diesem Sinne an der frohen Botschaft der Aufklärung auch dann noch fest, als die Gewichte sich längst verschoben haben. Dies zeigt sich auch in seinem Versuch, die Feindschaft gegenüber den Juden als "bittere Frucht des Egoismus, und einer zur Mystik und Schwärmerei sich neigenden Zeit" zu deuten und sie damit aus der Ideengeschichte der Romantik zu erklären. Und er rekurriert in seiner Deutung der zeitgenössischen Judenfeindschaft, wie Uta Lohmann erläutert, auf die Dramatisierungsform, die er in der sogenannten Mendelssohn-Lavater-Kontroverse (1769/1770) als Zuspitzung eines antijüdischen Affekts zu einem christlich-jüdischen Religionskonflikt erlebt hatte. Ähnlich wie Saul Ascher nimmt David Friedländer die Präsenz des Judenhasses im Denken deutscher Schriftsteller als einen plötzlichen Zusammenschluss unterschiedlicher Zeitschichten wahr, der eine Grenze der Erklärung markiert: "dieses ist nicht in Madrid, sondern in Berlin, nicht im Jahre 1280 sondern im Jahre 1820 gedruckt!"
Heinrich Heine ist vielleicht der erste deutschsprachige Autor, der sich mit Judenhass leidenschaftstheoretisch auseinandersetzt, also die konstitutive Rolle der Affekte in den Mittelpunkt stellt. Er beschreibt Dynamiken und Ökonomien der Schuldverschiebung, der Projektion und der Verdrängung, die dem Hass auf die Juden zugrunde liegen und ihn für Heine als Symptom kenntlich machen - "als Symptom umfassenderer gesellschaftlicher Probleme", nicht als "eigenständiges Vorurteil" (Willi Goetschel). Heines Schriften erforschen die Systematik der Ambivalenz der Gefühle gegenüber den Juden; sie tun dies oft unterhalb der Ebene der Begriffssprache, und gerade die poetische Bildsprache seiner Texte vermag es, die Bedeutung der Imagination in ihrem Zusammenhang mit den Gefühlen in den Blick zu rücken und den Wahncharakter des Judenhasses sichtbar zu machen. Heine ist auch einer der ersten, die Formen des Fortlebens des Vergangenen theoretisch beschreiben. Er fasst dabei sowohl die Dimension der Subjektgeschichte wie die der Kulturgeschichte ins Auge und bezieht beide aufeinander, indem er subjektgeschichtliche und kollektivgeschichtliche Verdrängungs- und Projektionsprozesse in ihrer Ähnlichkeit, in ihrer Überlagerung und Wechselwirkung offenlegt. Kultur wird in Heines Schriften als Schauplatz der Wiederkehr von überwunden Geglaubtem in der (jeweils aktuellen) Gegenwart exponiert. Ähnlich wie Saul Ascher erkennt Heine in den Manifestationen des Judenhasses, mit denen er konfrontiert ist, ein Fortleben des Mittelalters mit seinen Gewaltausbrüchen in der Gegenwart, und er entziffert in den Zeichen solchen Fortlebens nicht so sehr einen Rückfall der Zivilisation in die Barbarei als vielmehr Strukturen des Barbarischen innerhalb der Zivilisation, die durch die Kultur der Aufklärung selbst aufrechterhalten wurden. In vielen seiner Texte wird dabei Kultur als christliche Kultur kenntlich, während er umgekehrt den Zusammenhang von Feindschaft, Hass und Imagination aus einer religionsgeschichtlichen Dialektik herleitet, die für die Geschichte der europäischen Kultur einschneidend wird.
Karl Marx legt in seiner Antwort auf Bruno Bauer dar, wie die Denkfigur einer universellen Norm, die in Bauers "philosophische[m] Ideal von einem Staate" eingelöst sein soll, ihrerseits von christlichem Antijudaismus unterlegt ist. Marx' Kritik richtet sich hier gegen die Vorstellung eines liberalen Staates, der, gestützt auf universelle Normen, gleiche Rechte zu garantieren vorgibt, sich dabei aber immer noch, selbstverständlich und ohne dies legitimieren zu müssen, als christlicher Staat formiert. Marx beleuchtet scharf die Persistenz des christlichen Antijudaismus in einem Denken, das das Politische - die Idee freier Menschlichkeit - als Emanzipation vom Religiösen entwirft: Bauer postuliert die Überwindung des Christentums, stützt sich aber gleichzeitig auf tradierte judenfeindliche Argumente christlicher Theologie, um zu begründen, weshalb "den Juden, wie sie waren" (Shlomo Avineri) gleiche bürgerliche Rechte zu verweigern seien. Die Persistenz der tradierten Judenfeindschaft christlicher Theologie erweist sich für Marx in Bauers Erklärung, weshalb die Juden aufhören müssten, Juden zu sein, bevor sie die Bürgerrechte erhalten könnten: "der bloße Schein würde also, wenn er Jude bleiben wollte, das Wesentliche sein und den Sieg davontragen, d.h., sein Leben im Staat würde nur Schein oder nur momentane Ausnahme gegen das Wesen und die Regel sein." Für Marx ist diese Denkfigur des Scheinhaften der Effekt einer theologischen Kritik, die sich zur Religion "auf theologische Weise" verhält, anstatt sich politisch zu ihr zu verhalten. Der Antijudaismus, der sich darin ausdrückt, dass Bauer die Konversion der Juden zum Christentum verlangt, stellt für Marx ein Erinnerungsmal dar, an dem nicht nur der Entwicklungsstand der politischen Debatte ablesbar ist, sondern auch der der staatlichen Verfasstheit: "Die Staaten [], welche den Juden noch nicht politisch emanzipieren können, sind wieder am vollendeten politischen Staate zu messen und als unentwickelte Staaten nachzuweisen."
Jedoch trägt Marx' Text zur "Judenfrage" auch schon jene Ambivalenz in sich, die an Marx orientierte, sei es kommunistische, sei es sozialdemokratische Einstellungen zum Judentum teils bis heute prägt: Einerseits enthält er mit der Rückführung der Vorstellung vom Judentum auf Zustände der Selbstentfremdung wichtige Ansatzpunkte zur Dekonstruktion von antisemitischen Phantasmagorien, die im 20. Jahrhundert außerordentlich wirkmächtig wurden, in denen Vorstellungen von der Macht des Finanzkapitals und überlieferte antijüdische Feindbilder zur Vorstellung einer universellen Verschwörung verschmolzen wurden. Andererseits aber enthält der Text auch antisemitische Motive, die durchaus wirkungsmächtig wurden. Mit seiner Charakterisierung des Judentums als "Religion des Schachers" und seiner Forderung nach einer Aufhebung von Judentum und Christentum, die mit der Aufhebung von Entfremdung und Unterdrückung einhergehen sollte, steht er am Anfang einer Reihe von Bemühungen der nachhegelschen Linken, mit der Religion zugleich den Antisemitismus zu überwinden, Bemühungen, die jedoch noch von antisemitischen Motiven geprägt blieben.
Die Berufung auf universale Normen, die für Karl Marx fragwürdig geworden war, verschiebt sich bei Hermann Cohen in die Rechtssphäre, indem er den deutschen Nationalstaat als säkularen Rechtsstaat an die Idee einer universalen Ethik rückbindet. Aus dem Talmud leitet Cohen her, dass die Diskriminierungen jüdischer Bürger im deutschen Staat zu diesem selbst im Widerspruch stehen. Damit zeigt er, dass der Antisemitismus genuin mit dem deutschen Nationalstaat verbunden ist, insofern dieser ein christlich-deutscher Staat und eben kein säkularer Rechtsstaat ist. Die Kritik des Antisemitismus aus der Perspektive universeller ethischer Normen wird bei Hermann Cohen anhand der Reflexionsfigur des Fremden formuliert; darin berührt sein Denken sich mit zeitgenössischen Überlegungen von Moritz Lazarus oder Georg Simmel. Bei Cohen zeichnet sich hier ab, wie er Antisemitismus als Auslöschung von Andersheit denkt. Ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 1940, wird demgegenüber Theodor W. Adorno im amerikanischen Exil postulieren, dass der deutsche Antisemitismus als etwas prinzipiell Neues erkannt werden müsse, und dies impliziere, "daß das Problem des Antisemitismus" gerade nicht "auf das allgemeine des Fremden nivelliert werden" kann.
Judenhass ist für Hermann Cohen Ausdruck eines mangelhaften Begriffs von Sittlichkeit und Moral (Astrid Deuber-Mankowsky); er verstößt nicht nur gegen ethische und moralische Normen, sondern offenbart auch einen Mangel an Sittlichkeit. Sittlichkeit scheint sich für Cohen auch in dem Vermögen des Individuums auszudrücken, das Grundlose des Hasses reflektieren zu können.
Die Adressierung einer universellen Kategorie der Menschheit, die Constantin Brunner unternimmt, ist eingebettet in anthropologische Wissensfiguren. So deutet er auch den Judenhass als Phänomen einer allgemein-menschlichen Natur, verlängert das Historische an ihm gleichsam zurück ins Anthropologische. Dem Judenhass liegt in seinen Augen "Menschenhaß" zugrunde, daraus begründet sich seine Kritik des Begriffs "Antisemitismus", der den Hass mit den Juden identifiziere und ihn verwissenschaftliche. Auch Brunners Argumentation referiert auf den Rechtsstaat, der bei ihm zwar keine Sublimierung, aber eine Ordnung der vernichtenden Egoismen ermöglicht, indem er diese im Gleichgewicht hält. Brunner unterstreicht die pathische Struktur des Judenhasses: Er führt das Wahnhafte des Bildprozesses vor, in dem Imagination und Fiktion an die Stelle des Wirklichen rücken, vollkommen abgedichtet gegen jede Einrede der Vernunft (Irene Aue-Ben-David). Judenhass wird so als "abergläubisches Denken" gefasst, das epidemischen Charakter hat und auch auf die Wissenschaft übergreift, etwa auf Sprachforschung und Anthropologie, die von zeitgenössischen Rassetheorien geprägt sind. Brunner versucht sowohl der epistemischen als auch der affektiven Seite des Judenhasses Rechnung zu tragen und beides in einem systematischen theoretischen Entwurf zu verknüpfen. Signifikant an seiner Schreibweise sind die Umkehrungen, mit denen sie arbeitet, wie zum Beispiel die Inversion der Sprachformel "Judenfrage" zur "Antisemitenfrage". In diesem rhetorischen Gestus der Inversion steckt selbst ein Denkgehalt. Er reflektiert die Nötigung zur Erwiderung auf die erlebte Judenfeindschaft und sucht das Pathische der Projektion zu erschüttern; gleichzeitig ist der Argumentationsraum aber der eines deutsch-jüdischen Integrationsprojekts, in dem Brunner zunehmend isoliert ist. Wenn wenig später Selbstemanzipation und das Zum-Verschwinden-Bringen des Jüdischseins für ihn nahezu identisch werden, so bezeichnet das eine Aporie, die als Symptom zu lesen ist.
Die Erfahrung, dass sich das deutsche idealistische Denken, das Max Wiener als Konzept ethischer Freiheit deutet, für den rassentheoretisch begründeten Antisemitismus öffnet, stellt Wiener vor die bedrängende Frage, wie der Zusammenhang von "deutschem Geist" und antisemitischem Denken - ein für ihn eigentlich logisch nicht überbrückbarer Gegensatz - beschrieben und erklärt werden kann. Max Wiener rückt damit eine in Deutschland gepflegte Praxis des wissenschaftlichen Antisemitismus in den Blick, und dies meint die Verankerung des Judenhasses in der geistigen Tradition der Deutschen, aber auch in der epistemischen Struktur der deutschen (Geistes-)Wissenschaften. Historische Psychologie (Daniel Weidner) bietet für Wiener insofern einen Erklärungsansatz, als sie auf eine "deutsche Empfindungsweise" aufmerksam macht, die jenes "Wertgefühl" hervorbringt, welches zu einem der analytischen Kernbegriffe in seinem Essay wird. Die der Freiheitslehre von Kant und Fichte eingesenkte Werttheorie wird nach Wiener überführt in Urteile über den Wert von als "Rassencharakter" festgeschriebenen Unterschieden zwischen den Nationen. An die Stelle des moralischen Urteilsvermögens des ethischen Idealismus treten "Liebe oder Haß im Urteil" über historisch gewordene, voneinander verschiedene "Erscheinungen des Menschheitslebens". Wiener beschreibt diese Urteilsform als "metaphysischen Dualismus" und unterstreicht die Funktion der Wissenschaft bei der Autorisierung und Verklärung von Vorstellungsstrukturen, die eigentlich "Requisit des Märchens" sind.
Die Struktur eines Hassaffekts und dessen Verleugnung deckt Oskar Baum in Hans Blühers Schrift Secessio Judaica auf (Micha Brumlik). Er beschreibt sie als ein vom Affekt "nur allzu verwirrte[s] Buch" - die Verleugnung des (eigenen) Affekts ist Teil der Struktur eines Antisemitismus, der sich als Judenfeindschaft ohne Hass philosophisch begründen will. Baum nimmt darin eine unheimliche Kontinuität wahr, wenn er feststellt, Blühers Schrift enthalte "nichts anderes als das ins Seelische transponierte Blutmärchen vom jüdischen Ritualmord", nun rassentheoretisch ausstaffiert. Im Konzept der Secessio, der Trennung von Juden und Deutschen, werde der Begriff des Juden zur Allegorie, "mit der Blüher alles Gegnerische, Unwerte oder Wertfeindliche der geistigen Erscheinungen zusammenfaßt". Die Verleugnung des eigenen Hasses, die vorgeblich affektlose Denkrichtung seiner Schrift, bedeute aber nicht, dass Blüher den "Haß der anderen", wie Baum schreibt, leugnet, vielmehr wird er ihm zum Beweis der jüdischen Schuld. "Haß als Rechtfertigung des Hasses" nennt Baum diese Gedankenfigur. Die Erklärung für den Hass, die Baum selbst entwickelt, setzt auf der Ebene der gegenseitigen Beeinflussung der verschiedenen, im Modell organischer Körper gedachten Nationen an: Das jüdische Volk, indem es auf seiner Andersheit beharrt, bedeute für die anderen Nationen, "immer wieder von neuem mit gleicher innerer Kraftanspannung dagegen sich behaupten" zu müssen, und dies erzeuge Hass. Dass in dem "äußerlich so kultivierten" Duktus der Schrift Blühers heimliche Gewalttätigkeit mitschwingt, stellt Baum scharf heraus: Blüher könne sich noch so sehr "mit kühler Geste vom Antisemitismus der Bluttaten" distanzieren, seine Schrift sei dennoch "in hohem Maße mit schuld" an den seit 1919 begangenen oder versuchten Morden. Er liefere eine Rechtfertigung für Mörder, die behaupten, sie seien Antisemiten "auf wissenschaftlicher Grundlage". Der Zusammenhang zwischen einer philosophischen und wissenschaftlichen Begründung der Feindschaft gegen die Juden und Ausbrüchen physischer Gewalt gegen sie, also zwischen der Sphäre des Geistigen und dem Ereigniskontext des Mordens, wird in Oskar Baums Text klar benannt.
Arnold Zweig will im Nachdenken über die Leidenschaft, den Affekt, der die Feindschaft gegen die Juden antreibt, dessen "ganz eigene Struktur" verstehen: Er sei "weder Verachtung noch Haß, ist überhaupt nicht mit einem Worte benennbar - eine endemische Aufwallung, ein Massenphänomen". Im Unterschied zum Hass, so erklärt er, "erlischt der Antisemitismus als Massenphänomen, sobald er den Juden hier aus seinem Blickfeld gedrängt hat, das an der Gruppengrenze - Landesgrenze - endet". Die epistemologische Verschiebung, die Zweig vornimmt, indem er die Struktur der Leidenschaft von der Gruppe her denkt, hat mit dieser Fragerichtung zu tun. Die Affektdynamik innerhalb von Gemeinschaften und von Gruppen gegenüber anderen Gruppen, wie sie im Antisemitismus zum Ausdruck kommt, beschreibt er nicht nur als ein Geschehen, in dem Mut und Scham wirken; vielmehr vermutet er, dass erst die Menge "der wahre Träger dieser Empfindung" sei, und macht deutlich, dass es ihm um das "verfließende Feld" geht, das die "Einzelheit" des Einzelnen in der Gruppe umgibt und "ihn zum Teil der Gruppe macht".
Zweig nähert sich dem Phänomen des Antisemitismus als Erkenntnisproblem von zwei Seiten: Zum einen entwickelt er im Anschluss an Sigmund Freuds Massenpsychologie die beiden analytischen Kategorien des "Differenzaffekts" und des "Zentralitätsaffekts", die als Begriffe die enorme affektive Ladung in den häufig verschränkten Mechanismen der Ausgrenzung und der Identifikation aufnehmen sollen und auch nationale Gruppenaffekte zu beschreiben suchen, wie Zweig sie während des Ersten Weltkriegs erlebte. Zum anderen zeichnet er, wie Alfred Bodenheimer zeigt, ein vielschichtiges Bild der dramatischen Deformationen, die das Leben in einer feindlichen Umwelt den deutschen Juden zufügte.
Die Soziologisierung und Psychologisierung des Blicks auf das Phänomen des Antisemitismus zeigt sich auch bei Felix Weltsch. Sein Text "Antisemitismus als Völkerhysterie" ist ein Versuch, der dreierlei anstrebt: eine systematisch angelegte Ordnung der Manifestationsformen des Judenhasses, eine theoretisch angeleitete Erklärung der Genese dieses Hasses und eine - als ethische Aufgabe verstandene - Antwort auf die Frage, wie "man - trotz Antisemitismus - existieren, sich entwickeln, glücklich werden, seine Arbeit tun" kann. In seiner Erläuterung der Genese der Feindschaft gegen die Juden knüpft Felix Weltsch an die Schriften von Arnold Zweig und Fritz Bernstein an, indem er die Gruppe, die kollektive Gemeinschaft und deren "Wir-Bewusstsein", ins Zentrum stellt. Trieb, Triebstau und Widerstand sind die organisierenden Begriffe in Weltschs Theorieentwurf. Er möchte zeigen, dass der Judenhass "im Triebleben verankert" ist, indem er ihn als Reaktion auf ein Hemmnis oder eine Störung der Lebens- und Glückstriebe einer Gruppe versteht, so zum Beispiel auf die Niederlage im Ersten Weltkrieg bei den Deutschen. Den Modus dieses Reagierens oder Abreagierens bezeichnet er mit dem Begriff des Hysterischen, den er als Parallelfigur zu Sigmund Freuds psychoanalytischer Terminologie entwirft. Weltsch hebt die Destruktivität dieser Reaktionsweise hervor und unterstreicht, dass sie nicht Krankheit, nicht Ausnahme, sondern Normalität sei. Das jüdische Volk werde zum Objekt dieses Hasses nicht nur aufgrund seiner Andersheit, sondern weil es "überall in der Minorität ist, nirgends souverän ist, nirgends ein Heim hat" und man es "überall verhältnismässig ungestraft verfolgen kann". Auch wenn Weltschs Theorie des Antisemitismus dem Erklärungsmuster des psychischen Ventils und des Sündenbocks verhaftet bleibt (Vivian Liska und David Dessin), vermag sie einzelne Aspekte scharf zu beleuchten: die Mischung und Gleichzeitigkeit gegenläufiger Gefühle, die in der Feindschaft gegen die Juden virulent sind, die Variabilität des Judenhasses, vor allem aber dessen Unerreichbarkeit durch Aufklärung und Argumente der Vernunft. Es sei falsch, so erklärt Felix Weltsch, "den Antisemitismus bloss als eine Angelegenheit mangelnder Kultur anzusehen" oder zu glauben, er werde "mit der fortschreitenden Aufklärung und der Weiterentwicklung der Zivilisation verschwinden". Die Wissenschaft des Antisemitismus benennt er klar als ein deutsches Projekt - und bezeichnet damit den blinden Fleck auch einer gegenwärtigen Wissenschaftsgeschichte der Antisemitismusforschung.
Inhalt
Inhalt
Einleitung 9
Christian Wilhelm Dohm
Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781/1783) 25
Kommentar zu Christian Wilhelm Dohm 35
Stephan Braese
Saul Ascher
Eisenmenger der Zweite (1794) 47
Die Germanomanie (1815) 67
Die Wartburgfeier (1818) 72
Kommentar zu Saul Ascher 74
Bettina Stangneth
David Friedländer
Beitrag zur Geschichte der Verfolgung der Juden
im 19ten Jahrhundert durch Schriftsteller (1820) 85
Kommentar zu David Friedländer 97
Uta Lohmann
Heinrich Heine
Donna Clara (1823) 111
An Edom! (1824) 114
Shakespeares Mädchen und Frauen (1838) 116
Der Rabbi von Bacherach (1840) 119
Artikel zur Damaskus-Affäre (1840) 123
Atta Troll (1841/1843) 132
Prinzessin Sabbat (1851) 134
Geständnisse (1854) 139
Kommentar zu Heinrich Heine 140
Willi Goetschel
Karl Marx
Zur Judenfrage (1843/1845) 153
Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (1845) 179
Kommentar zu Karl Marx 187
Shlomo Avineri
Hermann Cohen
Die Nächstenliebe im Talmud (1888) 201
Kommentar zu Hermann Cohen 215
Astrid Deuber-Mankowsky
Constantin Brunner
Die Antisemitenfrage (1918) 231
Kommentar zu Constantin Brunner 247
Irene Aue-Ben-David
Max Wiener
Deutscher Geist und wissenschaftlicher Antisemitismus (1922) 257
Kommentar zu Max Wiener 262
Daniel Weidner
Oskar Baum
Die jüdische Gefahr (1923) 271
Kommentar zu Oskar Baum 287
Micha Brumlik
Arnold Zweig
Caliban oder Politik und Leidenschaft (1927) 297
Kommentar zu Arnold Zweig 316
Alfred Bodenheimer
Felix Weltsch
Antisemitismus als Völkerhysterie (1931) 329
Kommentar zu Felix Weltsch 346
Vivian Liska, David Dessin
Editorische Notiz 355
Autorinnen und Autoren der Kommentartexte 356
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