Beschreibung
Seit Kains Mord an Abel ist das Thema Schuld und ihre Bewältigung für die Kulturund Sozialgeschichte prägend. Schuld wird zugeschrieben, angeklagt, geleugnet, vergolten, bestraft, vergeben, vergessen, aufgearbeitet und vieles mehr. Der Band nimmt individuelle und kollektive Umgangsweisen mit Schuld aus der Sicht verschiedener Disziplinen in den Blick. So entsteht ein breites Panorama der Bedeutung von Schuld in der Gegenwart. Nicht zuletzt werden geläufige Wertungen - etwa: Vergebung sei grundsätzlich besser als Rache - infrage gestellt.
Autorenportrait
Dr. Thorsten Moos, Physiker und Theologe, ist Leiter des Arbeitsbereichs Religion, Recht und Kultur an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg. Dr. Stefan Engert, Politikwissenschaftler, war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzcluster Normative Orders, danach Ergänzungsprofessor an der Universität Konstanz und ist seit April 2015 stellvertretender Leiter der Fachgruppe Krisenprävention und -koordination am Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in Berlin.
Leseprobe
Vorwort Klaus Günther Schuld und Verantwortung sind nicht nur Schlüsselbegriffe im öffentlichen Diskurs moderner Gesellschaften über individuelles und kollektives Unrecht, sondern sie leiten auch eine formalisierte oder informelle Praxis an, in der Individuen oder Kollektive für dieses Unrecht zuständig gemacht werden und die Folgen zu tragen haben. Nahezu jedes Ereignis, das durch menschliche Handlungen zumindest mit herbeigeführt wurde, und das zumindest für einige Betroffene Schädigungen oder andere Nachteile hervorbringt, lässt den Ruf nach einem oder mehreren Schuldigen oder Verantwortlichen laut werden. Dies gilt für Klimawandel, Finanz- und Schuldenkrisen, kollabierende Atomkraftwerke mit unübersehbaren schädlichen Folgen ebenso wie für vergangene oder aktuelle Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Regierungen oder Bürgerkriegsparteien, für entgleisende Züge oder einbrechende Dächer von Sporthallen, aber auch für die vielen alltäglichen kleineren oder größeren Delikte und die noch größere Zahl von kleineren oder größeren Verletzungen unterschiedlicher Art, die Menschen einander zufügen. Freilich folgt in den meisten Fällen auf den Ruf nach einem Schuldigen ein Streit, bei aufsehenerregenden Fällen auch eine öffentliche Kontroverse über die Frage, wer der Schuldige sei und, vor allem, nach welchen Kriterien und Normen Art, Umfang und Grad der Schuld zu bestimmen sei. An diesen Debatten ist keineswegs nur das Rechtssystem beteiligt; zuweilen wird gerade der rechtliche Zugriff auf die Schuldfrage kritisiert und um moralische, religiöse und andere Aspekte erweitert. Auch wird aus der Perspektive empirischer Forschung, der Sozialwissenschaften, aber in jüngster Zeit auch der Natur- und Lebenswissenschaften bezweifelt, dass es so etwas wie Schuld im Sinne eines Unrechttuns trotz vorhandener Möglichkeit und Freiheit des Anders-handeln-Könnens überhaupt geben könne, ob der Mensch in seinem Verhalten zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht durch die vorangegangenen Zustände und die aktuelle Situation in einem so hohen Maße determiniert sei, dass er keine Wahl mehr habe. Schließlich kann aus einer distanzierten Perspektive auch gefragt werden, ob der prominente Status des permanenten Diskurses über Schuld und Verantwortung nicht eine spezifische, aber eben auch kontingente Eigenart der okzidentalen Kulturen sei, ob dies nicht die Folge eines Regimes der Subjektivierung des Menschen sei, die funktional für eine kapitalistische, marktwirtschaftlich organisierte Kommunikations-, Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft sei. Der vorliegende Sammelband zu verschiedenen Umgangsweisen mit Schuld ist eine forschungsfeldübergreifende Projektinitiative, die aus der Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Clusters Die Herausbildung normativer Ordnungen in Frankfurt/Main mit der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg entstanden ist. Auf diese Weise ist es gelungen, eine Vielzahl an geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen zusammenzubringen, die sich explorativ der Klärung eines wesentlichen heuristischen Leitbegriffs - hier Schuld - aus verschiedenen wissenschaftlichen Zugängen nähern. Unter dem weiteren Begriff der Verantwortung werden Fragen der Zurechnung und der Reaktion auf Verletzungen normativer Ordnungen sowie die Frage nach der Angemessenheit individualisierender Zuschreibungen auch in anderen Projektinitiativen immer wieder untersucht. Der Band zeichnet sich durch einen fächerübergreifenden Blick auf das Thema Schuld aus. Die Beiträge untersuchen in ihrer Gesamtheit einen elementaren Grundbegriff normativer Ordnungen und führen diese Analyse aus der Sicht und im Wechselspiel unterschiedlicher geistes-, sozial- und rechtswissenschaftlicher Disziplinen durch. Das Ergebnis dieses Zusammenspiels ermöglicht den Leserinnen und Lesern, einen systematisch-vergleichenden sowie multi-disziplinären Blick auf das zu verstehende Phänomen Schuld. Dabei werden unterschiedliche Praktiken des Umgangs mit Schuld (zum Beispiel Erinnern, Bestrafen, Aufarbeiten, Vergessen/Verdrängen, Entschuldigen, Vergelten, Vergeben etc.) aufgezeigt, analysiert und kritisch hinterfragt. Diese ergeben sich zum einen aus der Teilnehmerperspektive der verschiedenen Akteure, an denen Schuld haften kann - Gesellschaft, Täter und Opfer - und zum anderen aus den jeweiligen Blickwinkeln der unterschiedlichen wissenschaftlichen Teilgebiete wie zum Beispiel dem Strafrecht, der Kriminologie, der Theologie, der Philosophie, der Islamwissenschaften, der Psychologie, der klinischen Psychiatrie, der Kulturwissenschaft, der Literaturwissenschaft, der Geschichtswissenschaft und der Politikwissenschaft. Das dialektische Kernanliegen des Buches ist es aber nicht nur, die verschiedenen disziplinären Bestimmungen der Schuld und der Praktiken ihres Umgangs nachzuzeichnen, sondern auch, diese aufeinander zu beziehen, um sich reflexiv über eine gemeinsame Grundlage zu verständigen. Dabei gilt es, Schnittpunkte zu identifizieren aber auch disziplinäre Unterschiede im Umgang mit Schuld deutlich werden zu lassen. Am Ende eines jeden Einzelbeitrags steht der Versuch, für das komplexe Phänomen Schuld induktiv einen Vorschlag zur Definition oder zumindest für eine das Verständnis erleichternde theoretische Grundlage zu machen. Damit wird rückwirkend über den jeweiligen Umgangsmodus auf das unterstellte Verständnis von Schuld zurückgeschlossen. In der Gesamtschau können so geteilte (Umgangs-)Muster erkannt oder vergleichbare Konzeptionen und Kategorisierungsversuche herausgearbeitet werden, um die zusammengetragenen Ergebnisse auf eine höhere Abstraktionsstufe zu übertragen. Die Ergebnisse des Buches demonstrieren auch, dass es keine verobjektivierte Beobachterperspektive auf Schuld geben kann, sondern dass der Eigensinn von Normativität auch hier die Einnahme eines internen Standpunktes verlangt. Das schließt nicht aus, sondern fordert sogar, dass die Teilnehmerperspektive nicht mit einem disziplinären Zugang allein rekonstruiert werden kann, sondern nur aus verschiedenen Teildisziplinen. Infolgedessen gibt es auch keinen privilegierten Zugang zu dem Phänomen und keine allein maßgebliche Rekonstruktion. Das schließt nicht aus, dass sich allgemeine Maßstäbe rational rekonstruieren lassen, die jedoch stets deutungsoffen und kontrovers bleiben. Auch der Schuld- und Verantwortungsdiskurs steht unter dem von den Teilnehmern allgemein erhobenen Anspruch, dass sich die Zuschreibung von Schuld mit Gründen rechtfertigen lässt. Wie die jeweils konkreten Konflikte mit und über Schuldzuweisungen zu behandeln sind, welcher Umgang der angemessenere ist, kann nur von der jeweiligen Gesellschaft politisch beantwortet werden, da die jeweiligen Voraussetzungen einer Zuweisung von Schuld zeitlich wie örtlich kontingent sind. Damit der jeweilige Umgang mit Schuld - also der Zusammenhang zwischen Norm, Verletzung der Norm (Unrechtserfahrung) und schuldadressierender Handlung - praktisch wirksam wird, benötigt dieser einen inter-subjektiven oder kollektiven Bezug: das heißt einen institutionellen Handlungsrahmen, der über ein Verständnis von Schuld als einem privaten Verhältnis zwischen Täter und Opfer hinausgeht. Dieser politisch legitimierte Rahmen fungiert als normative Ordnung, die sowohl allgemeinverbindlich definiert sowie als Mechanismus der generalisierenden Verhaltenssteuerung und -koordination dem von ihn betroffenen Handlungssubjekten eine Grundorientierung für die Lebensführung vorgibt, um das Entstehen neuer schuldbeladener Verhältnisse zu vermeiden. Solche Konflikte zu ordnen, ist und bleibt eine zentrale Grundaufgabe des gesellschaftlichen Zusammenlebens. In einem kollektiven Rahmen muss die allgemeine Gültigkeit der Normen sowie der normativen Ordnung als solche bestätigt und notfalls auch gegen Störungen rechtsstaatlich verteidigt werden. Welche normativen Vorstellungen dabei die entscheidende Rolle spielen, eventuell einander en...