Beschreibung
Im November 2002 auf Platz 1 der Sachbuchbestenliste von NDR, Süddeutsche Zeitung und Buchjournal gewählt. 'Daß Reden Handlungen sind, macht sie gefährlich. Sie können Horizonte eröffnen oder zuschließen, vom Richtigen abhalten und zum Falschen anfeuern.' Uwe Pörksen Im Bundestag und im Wahlkampf, auf Aktionärsversammlungen und Kongressen, an Gedenktagen und Jahreswechseln: Wir hören sie reden, die Politiker, Bosse, Interessenvertreter. Doch sind nicht heute Begriffe wie Medienpräsenz oder politisches Design wichtiger als der Inhalt einer Rede? Was ist im TV-Zeitalter aus dieser alten Kunst geworden? Und was überhaupt ist eine gute Rede? An berühmten oder signifikanten Beispielen geht Uwe Pörksen diesen Fragen nach: Abraham Lincolns Gettysburg- Rede, Otto Wels' Rede gegen das Ermächtigungsgesetz 1933, Richard von Weizsäckers Gedenkrede zum 40. Jahrestag der Kapitulation. Es zeigt sich, daß die politische Rede, das Argumentieren im Öffentlichen Diskurs das Wesen der Demokratie ausmacht. Doch ist dieser Diskurs gefährdet: Überschwemmt von der Bilderflut der Medien, ausgehöhlt durch ein Nachlassen der sprachlichen Verbindlichkeit, an den Rand gedrängt durch eine in zahllose Einzelinteressen zerfallene Öffentlichkeit. Ein engagierter, brillant geschriebener Essay, dem es nicht an aktuellsten Seitenverweisen (auf den Krieg gegen den Terrorismus oder den Bundestagswahlkampf) fehlt. Nach seiner Sprach-und Bildkritik ('Plastikwörter' und 'Weltmarkt der Bilder') wendet sich Pörksen einem Grundlagenbereich unseres politischen Systems zu. Es geht um die Autonomie des Politischen und seiner Sprache. Es geht um die Wiedererfindung einer Gesellschaft, die sich argumentierend über ihre eigene Zukunft verständigt.
Autorenportrait
Uwe Pörksen, em. Professor für Sprache und Ältere Literatur in Freiburg. Wissenschaftliche, essayistische und literarische Veröffentlichungen.
Leseprobe
Einleitung Politik ist Machterhalt. Aber Machterhalt ist noch nicht Politik. Was ist Politik dann? Es ist die These dieses Buches, dass eben das wenig sichtbar ist und das die politische Rede das geeignete Instrument ist, es wieder sichtbar zu machen: das Politische, pointiert gesagt, wieder zu erfinden. In Zeiten des Wahlkampfs geht es um Machterhalt oder Machtgewinn, und zwar zwingend. Es ist nicht überraschend, wenn das Politische da verschwindet unter schmutziger Wäsche, Skandalen, Mut machenden Prognosen, wenn es andrerseits auf eine Minimalaussage schrumpft. Bilder sehen uns an. Ein strahlender Hoffnungsträger, links eine Drohkurve (sinkendes Wirtschaftswachstum), rechts eine Verheißungskurve (Anstieg der Wirtschaftskompetenz). Ein zweiter strahlender Hoffnungsträger, links eine Verheißungskurve (leichtes Abflauen der Arbeitslosigkeit), rechts eine zweite Verheißungskurve (leichter Anstieg des Wirtschaftswachstums.) Das ist nicht einmal ein Minimalprogramm. Es kann noch weniger werden. Wahlkämpfe können als Gespensterschlachten gewonnen werden. Der baden-württembergische Ministerpräsident Filbinger gewann ihn während der siebziger Jahre mit dem Slogan ´Freiheit und Sozialismus´ in einem Land, wo die Zahl derjenigen, die auf Sozialismus und Diktatur des Proletariats setzten, etwa 2, 2% betrug. Ein solider Oberbürgermeister Hamburgs, Ortwin Runde, verlor im Herbst 2001 seinen Sessel, weil ein zweitklassiger Angstmacher - die Sicherheitskurve! - es aus dem Stand zu 20% brachte. Das sind Symptome gähnender politischer Leere, fehlender Öffentlichkeit. Es gibt auch das Umgekehrte. Der junge John F. Kennedy gewann in den USA die Präsidentenwahl durch ein neues politisches Projekt USA und eine zugehörige Argumentenreihe, gespickt mit Zahlen. Willy Brandt "wirbelte vor 30 Jahren durch ein Öffentlichkeit erzeugendes Konzept - Neue Ostpolitik und Demokratisierung der Demokratie - das Wählervolk durcheinander und segmentierte es neu" (Gert Keil). Das waren geschichtliche Weichenstellungen. Öffentlichkeit heißt: es liegen Argumente in der Luft. Trotzdem ist es nicht die Absicht dieses Versuchs, Wahlreden zum Thema zu machen. Der Wahlkampf mit seinem Zwang zum Machterhalt ist nicht die geeignete Versuchsanordnung für das, was ich herausbekommen will. Ausgangspunkt ist der Verlust an Autonomie des Politischen, an dem, was Leibniz so treffend den ´Selbststand´ genannt hat, am ´Selbststand´ der Politik. Das Thema wird häufiger diskutiert. Ich selbst stieß darauf, als ich mich in den achtziger und neunziger Jahren mit einer Gruppe universeller Schlüsselbegriffe und Schlüsselbilder befasste, kurz gesagt, globalen und inhaltsarmen, positiv ausstrahlenden Mobilmachern: ´die exponentielle Weltbevölkerungskurve´, ´Modernisierung´. Von heute her gesehen sind es die Werkzeuge und Wegbereiter der Globalisierung. Ich nannte sie ´Plastikwörter´ (1988) und ´Visiotype´ (1997). Der Schluss in beiden Büchern war jeweils der gleiche: die Suggestivkraft dieser Begriffswelt und ihrer Normen drängt das Politische an den Rand. Es fehlt die Autonomie des Politischen. Der selbständige Anspruch des politischen Bereichs, politischer Kategorien, hat keine öffentlich durchdringende Stimme. Ich habe versucht, dem weiter nachzugehen. Die politische Stimme ist entstellt durch eine Reihe von Großmächten, sie in unserer Gesellschaft wirksam sind: Ökonomie. Technik. Wissenschaft. Medien. Demoskopie. Parteien. Kein Politiker kann sie ignorieren. Sie engen seinen Handlungsspielraum ein, sie schnüren den Spielraum der freien Rede ein. Das Parlament ist nicht das Zentrum einer Debatte und nicht mehr in der Lage, die Selbständigkeit des Politischen öffentlich sichtbar zu machen. Was wir seit mehr als zehn Jahren ´Politikverdrossenheit´ nennen, - es gibt sie, es gibt leider einen weitgehenden Rückzug der theoretischen Intelligenz aus diesem Bezirk, - ist nicht Verdrossenheit an der Politik, sondern an der Nullstelle, wo Politik erwartet wird und etwas anderes spricht. Darum kann sich keine politische Leidenschaft einstellen, kein Inter-esse, was heißt: ´Dazwischen-sein´. Was ist das Politische? Was suche ich? 19 Definitionen eines Handbuchs helfen kaum weiter. Dagegen stoße ich auf eine sächsische ´Redekunst´ von 1736, eine Handlungslehre, die es sehr viel deutlicher ausspricht, und vollends klar ist es beim Lesen, noch stärker dem Hören einiger politischer Reden. Das Buch der Reden gibt einen belebenden Einblick in das theoretische und praktische Handwerk der Politik. Die Rede erschien mir zunehmend als die beste Sonde zur Autonomie des Politischen. Diese "Entdeckung" wird, angesichts der mediatisierten Umgebung, in der Politik heute stattfindet, der umständlichen Prozeduren, denen sie unterworfen ist, naiv scheinen und komisch wirken. Der Stellenwert der Rede hat sich doch vollständig verschoben! Wir befinden uns nicht mehr auf dem Marktplatz, um die öffentliche Sache zu diskutieren! Ich will trotzdem versuchen, meine Wahl zu begründen. Der Kontrast zwischen Forum und Parlament ist in der Tat enorm.