Beschreibung
Nachdem der erfahrene Betriebsleiter der Chlorfabrik klammheimlich die DDR verlassen hat, wird der junge Wissenschaftler Dr. Bellmann, der keine Praxiserfahrung besitzt, an seine Stelle gesetzt. Nachdem ein Arbeiter durch eigenes Verschulden tödlich verunglückt, wiegelt Meister Kelle, der in der Fabrik alt geworden ist, seine Arbeiter gegen den jungen Chef auf und fordert mit einer Unterschriftenaktion seine Absetzung. Nur einer unterschreibt nicht. Josef Urbanczyk, dessen Rat der Betriebsleiter für eine bedeutende technische Verbesserung einholt, schämt sich später seiner Unterschrift.LESEPROBE:»Ist doch klar«, antwortete er, »die neue Betriebsleitung taugt nichts.«Die Arbeiter nickten. Manche, weil sie darauf schworen, was Kelle sagte. Sie schätzten ihn als erfahrenen Fachmann. Besonders bei den Älteren galt sein Wort. Sie kannten Heinrich Kelle noch aus der Zeit vor dem Kriege, als er wie sie einer Reparaturkolonne angehört hatte. Damals hatte er stets für zwei geschuftet. Die Jüngeren aber, die nach dem Kriege in die Elektrolyse gekommen waren, hatten sich angewöhnt, ihm nicht zu widersprechen. Sie ließen ihm seinen schnurrigen Willen. Manchmal war der Meister wegen Kleinigkeiten empfindlich und nachtragend.Günter Glück stieß Rauchringe vor sich her. »Der Neue hat sich noch nie sehen lassen.«Fenske ließ die Tabaksbüchse zuschnappen. »Auf der Straße hab ich ihn getroffen, sonntags. Gegrüßt hab ich ihn. Nicht einmal gedankt hat der.«Da tauchte Dr. Bellmann in den Gängen zwischen den Zellen auf. Er sah die Arbeiter in dichtem Knäuel an den Spinden stehen. In ihrer Mitte gewahrte er den Meister. Er wollte nicht mit ihm zusammentreffen. Jetzt nicht. Er stockte und wandte sich in eine andere Richtung, die ihn nicht an der Gruppe vorbeiführte.Alle hatten sie ihn entdeckt. Sie hefteten ihre Blicke auf seine schmale, junge Gestalt. Sie bemerkten auch, daß der Doktor rasch abbog. Sie sahen, wie er sich zusammenduckte und vor ihnen davonlief. An der Tür der Halle drehte er sich noch einmal um, verstohlen, wie geprügelt. Sie konnten sich das Gebaren Bellmanns nicht erklären.Der Pilenmann Fenske sagte: »Er will von uns nichts wissen. Wie anders war unser alter Betriebsleiter! Wenn da ein Chlorausbruch war, ging er zu jedem einzelnen und erkundigte sich nach der Gesundheit. Er gab auch jedem die Hand. Ganz glatte Finger hatte er, wie ein Fisch so glatt. Und der da... Der verduftet vor uns.«Irgend jemand sagte: »Wie wenn er was auf dem Kerbholz hat...«
Autorenportrait
Geboren 21. Juni 1931 in Schönebeck/Elbe, Studium der Philosophie und Publizistik an der Universität Leipzig, Diplom 1953, bis 1960 Kultur- und Wirtschaftsredakteur in Halle, Reporter.Seit 1962 freischaffender Schriftsteller, Mitglied der Akademie der Künste der DDR 1974-1991, Mitglied des Schriftsteller-Verbandes Deutschlands.Erik Neutsch ist am 20. August 2013 in Halle verstorben.VeröffentlichungenRomane:Spur der Steine, Halle 1964, Bergisch-Gladbach 1991, München 1994, Leipzig 1996 (35 Aufl.)Auf der Suche nach Gatt, Halle 1973, Benshausen 2009 (15 Aufl.)Der Friede im Osten, bisher 4 Bände, Halle 1974-1987 (29 Aufl.)Totschlag, Querfurt 1994 (2 Aufl.)Nach dem großen Aufstand - Ein Grünewald-Roman, Leipzig 2003, Dößel 2010 (2 Aufl.)Erzählungen:Die Regengeschichte, Halle 1960 (3 Aufl.)Die zweite Begegnung, Halle 1961Bitterfelder Geschichten, Sammelband, Halle 1961 (3 Aufl.)Die anderen und ich, Sammelband, Halle 1970 (5 Aufl.)Tage unseres Lebens, Leipzig 1973Heldenberichte, Sammelband, Berlin 1976Akte Nora S., Berlin 1976Der Hirt, Halle 1978, Berlin 1998Zwei leere Stühle, Halle 1979 (10 Aufl.)Forster in Paris, Halle 1981, Querfurt 1994 (3 Aufl.)Claus und Claudia, Halle 1989 (3 Aufl.)Stockheim kommt, Berlin 1998Verdämmerung, Kückenshagen März 2003 (2 Auflagen)Kinderbücher:Olaf und der gelbe Vogel, Berlin 1972 (5 Aufl.)Vom Gänslein, das nicht fliegen lernen wollte, Leipzig 1995.Bühnenwerke:Haut oder Hemd, Schauspiel, Urauff. Halle 1971Karin Lenz, Opernlibretto zur Musik von Günter Kochan, Urauff. Deutsche Staatsoper Berlin 1971Haut oder Hemd, Text und Dokumentation, Halle 1972Da sah ich den Menschen, Dramatik und Gedichte, Berlin 1983Die Liebe und der Tod, Gedichtband, Halle 1999Mitautor in ca. 70 Anthologien und Sammelbänden.Filme (nach seinen Texten):Spur der Steine, DEFA 1966Die Prüfung, DEFA 1967Akte Nora S., Deutscher Fernsehfunk 1975Auf der Suche nach Gatt, DFF 1976Zwei leere Stühle, DFF 1982Übersetzungen seiner Texte in über 20 Sprachen.Verkaufte Bücher (ohne Anthologien): ca. 2,2 Millionen in Deutschland.Auszeichnungen u.a.:Nationalpreis der DDR für Kunst und Literatur 1964 und 1981Heimich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR 1971Kunstpreis der Stadt Halle 1971Händelpreis der Stadt Halle 1973
Leseprobe
Die Arbeiter standen immer noch an den Werkzeugschränken. Der Pilenmann Fenske hielt ihnen seine Büchse mit Tabak hin. Sie griffen zu den Blättchen und drehten sich runde Stäbchen. Die Zigaretten in den Pappschachteln hatte der Chlorgestank sämtlich vergiftet. Sie waren ungenießbar geworden. Fenskes Tabak hatte sich als einziger unversehrt gehalten. Niemand verspürte noch rechte Lust, nach dem Ausbruch und dem Tod Maltes weiterzuarbeiten.Als der Meister vom Keller kam, wurde er mit Fragen bestürmt. Was die Polizei erklärt habe. Wie Malte verunglückt sei.Kelle zwirbelte seinen Bart und glotzte schläfrig. »Ist doch klar«, antwortete er, »die neue Betriebsleitung taugt nichts.«Die Arbeiter nickten. Manche, weil sie darauf schworen, was Kelle sagte. Sie schätzten ihn als erfahrenen Fachmann. Besonders bei den Älteren galt sein Wort. Sie kannten Heinrich Kelle noch aus der Zeit vor dem Kriege, als er wie sie einer Reparaturkolonne angehört hatte. Damals hatte er stets für zwei geschuftet. Die Jüngeren aber, die nach dem Kriege in die Elektrolyse gekommen waren, hatten sich angewöhnt, ihm nicht zu widersprechen. Sie ließen ihm seinen schnurrigen Willen. Manchmal war der Meister wegen Kleinigkeiten empfindlich und nachtragend.Günter Glück stieß Rauchringe vor sich her. »Der Neue hat sich noch nie sehen lassen.«Fenske ließ die Tabaksbüchse zuschnappen. »Auf der Straße hab ich ihn getroffen, sonntags. Gegrüßt hab ich ihn. Nicht einmal gedankt hat der.«Da tauchte Dr. Bellmann in den Gängen zwischen den Zellen auf. Er sah die Arbeiter in dichtem Knäuel an den Spinden stehen. In ihrer Mitte gewahrte er den Meister. Er wollte nicht mit ihm zusammentreffen. Jetzt nicht. Er stockte und wandte sich in eine andere Richtung, die ihn nicht an der Gruppe vorbeiführte.Alle hatten sie ihn entdeckt. Sie hefteten ihre Blicke auf seine schmale, junge Gestalt. Sie bemerkten auch, daß der Doktor rasch abbog. Sie sahen, wie er sich zusammenduckte und vor ihnen davonlief. An der Tür der Halle drehte er sich noch einmal um, verstohlen, wie geprügelt. Sie konnten sich das Gebaren Bellmanns nicht erklären.Der Pilenmann Fenske sagte: »Er will von uns nichts wissen. Wie anders war unser alter Betriebsleiter! Wenn da ein Chlorausbruch war, ging er zu jedem einzelnen und erkundigte sich nach der Gesundheit. Er gab auch jedem die Hand. Ganz glatte Finger hatte er, wie ein Fisch so glatt. Und der da... Der verduftet vor uns.«Irgend jemand sagte: »Wie wenn er was auf dem Kerbholz hat...«
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