Beschreibung
Anna Seghers Roman 'Transit' (1944) ist Leitmotiv dieses Filmessays über deutsche Exilanten in Frankreich und ihre Flucht in den Süden nach Hitlers Einmarsch in Paris. FLUCHTWEG NACH MARSEILLE ist aber weder Romanverfilmung noch Dokumentarfilm: Schauspieler sprechen und reflektieren Passagen aus dem Roman. Zeitzeugen kommen zu Wort. Dokumente der NS-Zeit werden Bildern von Orten und Landschaften gegenübergestellt, in denen den Filmemachern und uns die Schauplätze von Verfolgung und Flucht wiederbegegnen. Eine Spurensuche, die Fakten, persönliche Erinnerungen, literarische und visuelle Reflexionen miteinander verwebt. Der Film Fluchtweg nach Marseille - BRD 1977 - Drehbuch und Regie: Ingemo Engström, Gerhard Theuring - Kamera: Axel Block, Melanie Walz - Ton: Karlheinz Roesch - Schnitt: Heidi Murero, Elke Hager - Darsteller: Katharina Thalbach, Rüdiger Vogler, François Mouren-Provensal - Zeitzeugen: Ruth Fabian, Peter Gingold, Alfred Kantorowicz, Ernst Erich Noth, Ida Pozner, Vladimir Pozner - Sprecher: Reinhart Firchow, Hildegard Schmahl - Produktion: Theuring-Engström - Filmproduktion: Westdeutscher Rundfunk Köln - Premiere: 12. Oktober 1977 (Internationale Mannheimer Filmwoche) - Gesamtlänge: 209 Min. Filmregisseure als Agenten der Erinnerung Auf dem Symposium der diesjährigen Filmfestspiele in Edinburgh war das Verhältnis von Kino und Geschichte diskutiert worden: Über Geschichte, so das vorläufige Resultat, könne man nicht länger selbstherrlich und bewusstlos verfügen in intuitiven Nacherfindungen, in Ausgeburten historischer Phantasie, wie sie in Biographien, Kostümfilmen und historischen Dramen üblich sind. Statt dessen müsse Geschichte als Tätigkeit, und zwar als Historisierung der Gegenwart verstanden werden: als Recherche, die ihren Ausgang von den Vorurteilen und Interessen der Gegenwart nimmt und sich deren bewusst werden muss; und als Umgang mit historischem Material, das nie der wirkliche Stoff der Vergangenheit, sondern immer seine gebrochenen Abbilder und Reflexionen sind. Geschichte als Historisierung, als auf seine Geschichte hin durchsichtig Machen von Gegenwart: Was das sinnlich konkret heißen kann, wurde in drei der wichtigsten Beiträge der 26. Internationalen Filmwoche Mannheim augenfällig. Ingemo Engströms und Gerhard Theurings Film FLUCHTWEG NACH MARSEILLE. Die beiden leisten Trauerarbeit bei ihrer breitangelegten Recherche auf den Spuren von Anna Seghers und ihres Romans Transit, in dem die Autorin ihre Flucht vor der deutschen Armee aus dem besetzten Paris nach Marseille verarbeitete. Als 'Agenten der Erinnerung' (Filmtext) sind die beiden Regisseure 1977 den Stationen der Flucht und des Exils der Jahre 1940/41 gefolgt: Auf der Spur von Fotos, Wochenschauen, Texten wollten sie die längst verschüttete Erinnerung an damals wachrufen. Neben Transit, aus dem Rüdiger Vogler längere Passagen vorträgt, neben den Landschaften und Städten des Romans, kommen Augenzeugen dieser Jahre zu Wort, auch Leidensgefährten wie Walter Benjamin und Port Bou, der Ort seines Freitodes. Benjamins kurz vor seinem Tod entworfenes Bild vom Engel der Geschichte, den der Wind des Fortschritts in die Zukunft bläst, während er im Blick zurück die Vergangenheit als wachsenden Trümmerhaufen erfährt, dieses Bild geht Engström/Theuring nahe: Auch ihnen ist diese Vergangenheit nur in Trümmern, in disparaten Bruchstücken zugänglich, die sie der Chronologie des Romans folgend aneinander setzen in ihrem dreieinhalbstündigen Film, der sich denn auch bescheiden als 'Bilder aus dem Arbeitsjournal' versteht. Wie in vielen neueren Texten der Filmkritik, zu dessen Autoren die Filmemacher seit Jahren zählen, ist der Zuschauer/Leser bei diesem Verfahren frei, sich die ausgebreitete Stofffülle selbständig anzueignen. Doch die Kehrseite solcher Demut vor dem Material ist der Verzicht darauf, Exil, Flucht, antifaschistischen Widerstand, die Vielzahl der Einzelheiten zusammenzudenken und auf unsere Gegenwart hin zuzuspitzen. Nur schem