Darf ich vorstellen: Annette. Wienerin, Anfang 30, alleine lebend (und sie genießt es). Vertreibt sich die Zeit mit Männern, die sie ein bisschen langweilen, hat ein bisschen Anxiety und leichte Depressionen. Ist genervt vom Wetter und findet, dass es mit der Gleichberechtigung jetzt endlich mal vorwärts gehen könnte; fühlt sich aber auch nicht in der Lage, selbst aktiv zu werden. Sie geht gerne früh ins Bett, liest viel und fände es soviel einfacher, wenn "Zärtlichkeiten zwischen Frauen" nicht so ein Tabuthema wären.
Klingt jetzt erstmal nicht nach deiner außergewöhnlichen Protagonistin. Allerdings ist das Buch, in dem Annette der Hauptcharakter ist, nicht aus dem Jahre 2024, sondern wurde bereits 1957 geschrieben. Marlen Haushofer, den Meisten bekannt wegen ihres Bestsellers "Die Wand", hat mit diesem frühen Werk die Rolle einer isolierten Frau vorgezeichnet. Hier geschieht es noch etwas subtiler als im späteren Werk.
Annette verliebt sie sich in Gregor, einen etwas älteren Mann. Zum ersten Mal bindet sie sich emotional an jemanden und stellt fest, wie schwer es ist, sich zu verbiegen und die Rolle zu spielen, in der Gregor sie gerne sehen will. Auf keinen Fall "hysterisch" sein. Nicht zu fordernd. Interesse für seine Aktivitäten zeigen. Ja, auch da hat man manchmal das Gefühl, da hat sich nicht soviel geändert in den letzten 60 Jahren.
Annette wird schwanger und auch die Schwangerschaft versetzt sie in einen Zustand der Isolation. Freude und Ungläubigkeit gehen einher mit der Tatsache, dass Gregor sich eine Geliebte nimmt, weil Annette sich verändert. TW: das Baby wird nie lebendig zur Welt kommen.
Der Text ist eine Erzählung, durchsetzt mit Tagebucheinträgen von Annette und Erinnerungen an ihre Kindheit. Da wir uns im Wien der unmittelbaren Nachkriegszeit befinden, kann man sich vorstellen, dass das nicht nur schöne Erinnerungen sind. Es ist trotzdem kein allzu harter Text. Haushofer zeichnet ihre Figur mit Empathie und lässt uns durchaus auch gute Stunden mit Annette haben. Ich war insgesamt sehr angetan, wie modern Marlen Haushofers Frauenfiguren sind. Wie nachvollziehbar ihre Gefühlswelt ist. Der ganze Kanon der männlichen Nachkriegsliteratur, durch den wir uns als Schüler*nnen und Student*innen quälen mussten, würde auf jeden Fall durch das eine oder andere Buch einer weiblichen Autorin aus dieser Zeit gewinnen. Auch um zu merken: so lange ist das alles noch gar nicht her. Seht das als Aufforderung jetzt gleich eines ihrer Bücher zu lesen! Das Gesamtwerk ist letztes Jahr in einer wunderschönen schlichten bibliophilen Gesamtausgabe bei Ullstein erschienen.