Das Leben vor uns von Kristina Gorcheva-Newberry ist der erste Roman der Autorin und war auch mein erster Kontakt mit ihr. Dennoch hatte ich von Anfang an ein gewisses Gefühl des Wiedererkennens. Zwar bin ich etwa ein Jahrzehnt jünger als Anja, die Protagonistin, und ihre Freund:innen, aber die Sowjetunion ist auch das Land meiner Geburt und so vieles ist mir nah und vertraut. Ein wenig geht es der Autorin vielleicht auch um das Erinnern anhand von Geschmack, Geruch und anderen Sinnen, machen diese doch so viel aus, was unsere Vergangenheit und Identität angeht. Diese Eindrücke, Momentaufnahmen und Begebenheiten vermengen sich auf gelungene Weise zu einer dichten Beschreibung des Lebens vor uns, des Lebens vor dem Zusammenbruch des Sowjetunion und vor den persönlichen Tragödien, die unausweichlich auf die Figuren warten. Anja und Milka stehen im Mittelpunkt der Erzählung. Eine unzertrennliche Freundschaft verbindet die beiden jungen Frauen seit frühester Kindheit. Ungeachtet aller Unterschiede erleben sie gemeinsam den Alltag, den ersten Kuss, das erste Aufkeimen ihrer Sexualität und teilen alles miteinander, von den Ferien auf der Datscha von Anjas Eltern bis zu ihrer Leidenschaft für Literatur. Und alles vor dem Hintergrund von "We are the Champions", gesungen von einem Freddie Mercury, dessen Bilder sie sehnsüchtig hüten. Sie werden niemals heiraten, niemals Kinder haben und nach Paris durchbrennen, da sind sie sich sicher. Sie haben das Leben vor sich. Die Zeit schreitet voran und mit dem Ende eines Landes, einer Epoche, endet auch die vermeintliche Unschuld und in einer Reihe dramatischer Ereignisse in gewisser Weise mehr als nur eine Welt. Fast zwanzig Jahre später kehrt Anja aus einem neuen erfolgreichen Leben in den USA zurück. Vordergründig, um ihren Eltern beizustehen, die im Zusammenhang mit dem Aufstieg der Oligarchie in Putins Russland den geliebten Obstgarten und die Datscha zu verlieren drohen, den identitätsstiftenden Ort Anjas und ihrer Familie. Doch es gibt so vieles andere, das Anja auf dieser Reise einholt. Auf eindrückliche Weise beschreibt die Autorin die Auseinandersetzung der Protagonistin mit der Vergangenheit - ihrer eigenen und der eines Landes, das es zwar nicht mehr gibt, das zu verstehen aber gerade im Moment ein großes Anliegen sein dürfte. Für mich also durchaus ein persönliches Buch, das ich allen empfehlen möchte, die bedeutende Zusammenhänge auf der zwischenmenschlichen Ebene begreifen möchten.